Das erinnert an Rousseau, der in seinem pädagogischen Roman "Emile" eben diesen gleichnamigen Jungen vor der Entfremdung durch die bürgerliche Gesellschaft bewahren wollte. Aber im Unterschied zu Rousseaus pädagogischer Idylle geht es nicht um das Aufwachsen eines Einzelnen, sondern um kollektive Umerziehung: Die neue "Schule für alle" soll Geburtshelferin einer "inklusiven Gesellschaft" sein, die sich durch Dialog, Verständnis, Barmherzigkeit und Eintracht in der Vielfalt auszeichnet (5). Auch wenn nicht alle Anhänger der Inklusionspolitik solch paradiesische Erwartungen teilen, so sind diese Erwartungen doch symptomatisch für den moralisch-missionarischen Impetus. Der setzt vor allem die Lehrer unter Druck: Sie sollen nicht nur höchst unterschiedlich befähigte Schüler gemeinsam unterrichten, sondern auch und besonders die schwierigen Schüler individuell fördern, und mehr noch, ihnen soziale Anerkennung vermitteln. Professionalität und Fairness reichen dabei nicht, es geht um eine Wertschätzung der gesamten Persönlichkeit. Die Schule soll eine Gegenwelt sein zum kapitalistischen Arbeitsmarkt, wo jeder nach seiner Arbeitskraft, mithin nach seiner "ökonomischen Verwertbarkeit", beurteilt wird (6).
Aber auf eben diese Leistungsanforderungen einer arbeitsteiligen Wirtschaft sollte die Schule Kinder vorbereiten. Das erwarten besonders auch die Eltern, die sich eine gute Zukunft für ihre Kinder wünschen. Dass das gegliederte Schulwesen in Deutschland den Zukunftschancen von Kindern schade, weil es zu stark "selektiere", ist ein von seinen Gegnern ständig wiederholtes, aber nicht bewiesenes Vorurteil. Dagegen spricht schon die bemerkenswert niedrige Jugendarbeitslosigkeit, für die Deutschland international beneidet wird. Sie ist der Erfolg eines ausdifferenzierten, schulischen und beruflichen Bildungssystems, das unterschiedliche Wege für unterschiedliche Begabungen eröffnet. Davon profitieren auch behinderte Menschen, wie ihre im europäischen Vergleich überdurchschnittliche hohe Beteiligung am Arbeitsleben zeigt (7). Nun sind Bildungszertifikate und Erwerbsquoten allein kein Gradmesser guten Lebens. Echte Menschlichkeit erfordert eine bedingungslose Annahme als Person, ohne Ansehen von Verdienst oder Leistung. Mit dieser wahren "Inklusion" ist die Institution Schule heillos überfordert, denn kein Lehrer kann alle seine Schüler in ihrer ganzen Individualität würdigen. Vater Staat kann nicht lieben, lieben können nur Personen und das geschieht vor allem in der Familie (8). In jedem Gesellschaftssystem bleibt die Familie deshalb für junge Menschen, und die Behinderten besonders, der wichtigste Ort ihrer Persönlichkeitsentfaltung.
(1) Schule NRW. Amtsblatt des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Sonderausgabe Inklusion, Düsseldorf 2014, S. 10. Diesem Bildungskonzept liegt eine spezifische Anthropologie zugrunde, die der Pädagoge Hans Wocken im Interview mit dem Bildungsportal Nordrhein-Westfalen wie folgt erläutert: "Inklusion bestreitet die Existenz von zwei Sorten Menschen, nämlich von behinderten und nichtbehinderten Menschen. An die Stelle der Dichotomie "normal" versus "behindert" tritt in der inklusiven Schule die Anerkennung der Vielfalt der Kinder." Auf die Frage nach den "Grenzen der Inklusion antwortet er hier: "Die Barrieren liegen in den Köpfen der Menschen, die die Inklusion nicht wollen und in der Gliederung des Bildungssystems. Diese Barrieren muss man Stück für Stück beseitigen. Die Inklusion an sich hat keine Grenzen. Der Begriff Inklusion schließt ja gerade Grenzen aus!"
http://www.schulministerium.nrw.de/....
(2) Schule NRW, a.a.O., S. 15.
(3) Zitiert nach: Bernd Ahrbeck: Inklusion. Eine Kritik, Stuttgart 2014, S. 50.
(4) Vgl. ebd., S. 74-75.
(5) Ebd., S. 61.
(6) Ebd., S. 76-77.
(7) Siehe hierzu: "Erwerbstätigenquoten Behinderter" (Abbildung).
(8) Deshalb ist es tragisch, wenn Familien zerfallen und der Staat deshalb eine Rundumbetreuung von Kindern in Heimen übernehmen muss. Siehe hierzu: http://altewebsite.i-daf.org/....