Der von der europäischen Zulassungsbehörde vergebene Status eines „Orphan Drug“ ist auch mit der Annahme eines Vorteils gegenüber den bereits vorliegenden Therapieoptionen verbunden. In Deutschland wird daher für Orphan Drugs ein Zusatznutzen unabhängig von der konkreten Datenlage anerkannt (fiktiver Zusatznutzen). Aber sind die neuen Orphan Drugs tatsächlich besser als existierende Behandlungsformen? In einem Artikel für das BMJ ist ein Team um Philip Kranz, Natalie McGauran und Thomas Kaiser aus dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zusammen mit Rita Banzi vom Mario- Negri-Institut (Italien) unter anderem der Frage nachgegangen, ob diese Annahme eines fiktiven Zusatznutzens gerechtfertigt ist. Sie kommen zu dem Schluss: Wir wissen es oft nicht, da der Orphan-Drug-Status ohne ausreichende Evidenz mit einem therapeutischen Zusatznutzen gleichgesetzt wird.
Aus diesem Grund, so fordern die Autoren und Autorinnen, sei es dringend erforderlich, den Orphan-Drug-Status vom Label „Zusatznutzen“ zu entkoppeln. Dies ist bislang gesetzlich so vorgesehen, um Anreize für die Entwicklung von Orphan Drugs zu schaffen. Das Label „Zusatznutzen“ sollte aber nur vergeben werden, sofern tatsächlich robuste Evidenz im Vergleich zum Therapiestandard vorliegt, heißt es im BMJ-Artikel.
Unzureichende Evidenz: ein europaweites Problem
Die Gesundheitssysteme in Europa sind verschieden. Letztendlich haben aber alle Systeme dasselbe Problem: oftmals unzureichende Evidenz für die Frage, ob ein neues Arzneimittel Vorteile gegenüber den vorhandenen Therapieoptionen bietet. Da in Deutschland jedes neue Arzneimittel prinzipiell erstattungsfähig ist, bedeutet dies, dass etwa die Hälfte der Arzneimittel in die Versorgung gelangt, ohne dass ausreichende Erkenntnisse dazu vorliegen, ob diese Arzneimittel tatsächlich einen Fortschritt für die Patientinnen und Patienten mit sich bringen. In vielen anderen Ländern entsteht primär ein anderes Problem: Dort ist eine ausreichende Evidenz Voraussetzung dafür, dass ein neues Arzneimittel erstattet wird. Das bedeutet, dass Patientinnen und Patienten unter Umständen wichtige Medikamente vorenthalten werden, da diese Medikamente aufgrund der unzureichenden Evidenz z. B. an der Kosten-Nutzen-Bewertung scheitern und nicht erstattet werden.
Frühzeitige Evidenzgenerierung notwendig
Auch wenn die Durchführbarkeit von randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) bei seltenen Erkrankungen häufig in Zweifel gezogen werde, zeigten die Auswertungen des IQWiG doch, dass die Generierung von Evidenz im Rahmen von RCTs auch für Orphan Drugs möglich sei, betonen die Autoren und Autorinnen. Um die Evidenzlage für Orphan Drugs zukünftig zu verbessern, sollten internationale Register für seltene Erkrankungen aufgebaut werden, mit deren Hilfe RCTs einfacher durchgeführt werden können. Unsicherheiten durch kleine Studienpopulationen könne man mit statistischen Methoden begegnen. IQWiG-Leiter Thomas Kaiser: „Robuste Evidenz im Vergleich mit dem Therapiestandard ist für rationale Therapie- und Erstattungsentscheidungen unerlässlich – die frühzeitige Generierung dieser Daten, z. B. parallel zum Zulassungsprozess, sollte daher obligatorisch sein. Aktuell wird vor allem die spätere Kostenerstattung von Orphan Drugs gefördert. Weit wichtiger ist jedoch, die frühzeitige Generierung aussagekräftiger Studienergebnisse zu unterstützen.“
Entwicklung von Orphan Drugs gesetzlich begünstigt
Allein in der Europäischen Union leben 30 Millionen Menschen, die an mehr als 6000 verschiedenen seltenen Krankheiten leiden. Für die Entwicklung von Wirkstoffen gegen seltene Krankheiten besteht die ökonomische Problematik darin, dass zwar ein hoher Bedarf besteht, aber lediglich kleine Absatzmärkte vorhanden sind. Dies führte zu einer Gesetzgebung, die Anreize für die Entwicklung von Orphan Drugs schafft: die EU Orphan Regulation aus dem Jahr 2000.
So ist seit 2000 bei der Zulassung auf EU-Ebene der Status eines Orphan Drugs mit dem Label eines Zusatznutzens verknüpft. Dafür werden jedoch keine soliden Nachweise verlangt. „Durch die unzureichende Evidenz und die Annahme einer Überlegenheit bleibt der tatsächliche Zusatznutzen unklar. Das erschwert fundierte Entscheidungen über den klinischen Einsatz, die Kostenerstattung und die Preisgestaltung“, erläutert Arzneimittelexperte Philip Kranz.
Fazit der Autoren und Autorinnen: Das Label, wonach Arzneimittel gegen seltene Krankheiten einen realen therapeutischen Zusatznutzen aufweisen, sollte nur auf der Grundlage solider Nachweise, sprich robuster Evidenz, erteilt und vom Zulassungsprozess vollständig entkoppelt werden. Dies würde Anreize dafür schaffen, die Überlegenheit des neuen Wirkstoffs im Vergleich zum Therapiestandard frühzeitig nachzuweisen. Es würde letztlich die Behandlungsergebnisse bei Patienten und Patientinnen mit seltenen Krankheiten verbessern.