Als das Institut im November 2015 seinen Vorbericht vorlegte, reichte die Datenlage nicht aus, um einen Nutzen oder Schaden solcher Tests zu belegen. Allerdings waren Ergebnisse weiterer relevanter Studien für Anfang 2016 angekündigt. Auf Bitten des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hat das IQWiG daher nach der wissenschaftlichen Erörterung zum Vorbericht zunächst abgewartet.
Im Sommer 2016 wurden erste Ergebnisse einer dieser Studien, MINDACT, veröffentlicht, die noch in den Abschlussbericht einbezogen werden konnten und nun im Mittelpunkt der Debatte stehen. Die neuen Studiendaten liefern wertvolle Hinweise auf die möglichen Konsequenzen eines Chemotherapie-Verzichts wegen eines Biomarker-Testergebnisses.
Von einem klaren Nutzen des in MINDACT untersuchten Tests kann aber nicht gesprochen werden. Dafür ist zum einen der Beobachtungszeitraum mit fünf Jahren zu kurz: Viele Fernmetastasen – also Metastasen fernab der betroffenen Brust – treten erst in den Folgejahren auf. Zum anderen ist fraglich, ob ein bis zwei Prozent mehr Todesfälle durch eine Wiederkehr und Ausbreitung der Krebserkrankung wegen eines Chemotherapie-Verzichts wirklich unbedeutend sind.
Biomarker sollen zeigen, wer von Chemotherapie profitiert
Untersuchen sollte das IQWiG den Nutzen eines Einsatzes von Biomarkern für die Therapieentscheidung von Frauen, bei denen bisher unklar ist, ob sie überhaupt eine Wiederkehr der Erkrankung (ein Rezidiv) erleiden würden beziehungsweise ob ihr Krebs auf die Chemotherapie ansprechen würde. Wenn das nicht der Fall ist, ist eine Chemotherapie eine unnötige Belastung. Offen ist das bei Patientinnen mit primärem Hormonrezeptor-positivem, HER2/neu-negativem Mammakarzinom, bei denen höchstens drei Lymphknoten befallen sind.
Mit einer Chemotherapie nach einer erfolgreichen Tumoroperation will man mögliche Mikrometastasen ausschalten und so ein Rezidiv verhindern. Die meisten Betroffenen erleiden aber auch ohne eine solche Chemotherapie kein Rezidiv. Allein anhand etablierter Faktoren wie Alter, Lymphknotenstatus und Grading lässt sich die Gruppe der Patientinnen, die wirklich von der Chemotherapie profitieren, nicht sicher bestimmen. Von sogenannten Biomarkern erhofft man sich sichere Aussagen zum Nutzen einer solchen Zusatztherapie.
Viele Studienergebnisse konnten nicht berücksichtigt werden
Bei der Literaturauswertung erwiesen sich acht Studien als relevant für die Fragestellung. In sechs dieser Studien fehlen die Daten vieler Patientinnen – etwa, weil Proben bereits für andere Auswertungen verbraucht oder für den Test nicht geeignet waren, oder weil keine Einwilligung in die erneute Verwendung der Proben vorlag. Wenn die Datenbasis insbesondere für die wichtigen Langzeitauswertungen derart unvollständig ist, kann das zu verfälschten Aussagen führen. Die Ergebnisse dieser Studien konnten daher nicht für die Nutzenbewertung herangezogen werden.
In einer weiteren Studie wurde die Entscheidung zwischen zwei Chemotherapien untersucht, nicht aber ein möglicher Verzicht auf eine Chemotherapie. Daher geht es im Folgenden ausschließlich um die achte Studie, MINDACT.
Fast jede Zweite mit hohem klinischem Risikowert hat günstiges Testergebnis
In dieser randomisierten kontrollierten Studie wurde das Tumorgewebe von knapp 7000 Frauen mit Mammakarzinom im Frühstadium nach der Tumoroperation zusätzlich zur klinischen Risikoeinschätzung auch mit einem Biomarker getestet, nämlich MammaPrint. Bei diesem Test wird die Ablesestärke von 70 Genen ermittelt. Auf der Basis dieses sogenannten Genexpressionsprofils wird das Risiko, dass der Krebs Fernmetastasen bildet, entweder als niedrig oder als hoch eingestuft.
Die meisten Studienteilnehmerinnen entsprachen den Einschlusskriterien für die vorliegende Bewertung. Bei der Hälfte der Frauen ergab die herkömmliche klinische Risikoeinstufung einen niedrigen Wert. Bei der anderen Hälfte wies die klinische Einstufung ein hohes Risiko aus, dass später – unter Umständen erst nach vielen Jahren – Fernmetastasen entstehen. Sind diese erst einmal aufgetreten, sterben zwei von drei betroffenen Frauen innerhalb von zehn Jahren am Krebs.
Der zusätzlich durchgeführte Biomarker-Test ergab für 46 Prozent der Frauen mit hohem klinischem Risikowert einen niedrigen genetischen Risikowert. Um zu ermitteln, ob Frauen mit einer solchen widersprüchlichen Risikoeinschätzung von einer Chemotherapie profitieren, erhielt die Hälfte von ihnen eine Chemotherapie.
Fünf-Jahres-Ergebnisse lassen nur vorsichtige Abschätzung zu
Im Stellungnahmeverfahren zum Vorbericht des IQWiG waren sich die Experten einig: Fernmetastasen und andere Folgen einer Brustkrebserkrankung können noch viele Jahre später auftreten, sodass man die Lage mindestens zehn Jahre im Blick behalten muss. Die nun veröffentlichten ersten Ergebnisse von MINDACT wurden aber schon nach fünf Jahren erhoben. Daher sind noch keine gesicherten Bewertungen der Vor- und Nachteile eines Chemotherapie-Verzichts aufgrund niedriger Biomarker-Risikowerte möglich. Das IQWiG konnte nur eine grobe Abschätzung der nach zehn Jahren zu erwartenden Ergebnisse vornehmen.
„Niemand weiß genau, ob die Unterschiede zwischen den Gruppen mit und ohne Chemotherapie in den nächsten Jahren wachsen oder schrumpfen oder aber in beiden Gruppen etwa gleich viele weitere Fernmetastasen auftauchen werden“, meint Stefan Lange, stellvertretender Leiter des IQWiG.
„Aber die jetzt vorliegenden Ergebnisse sind das Beste, mit dem wir zur Zeit arbeiten können. Es ist gut, dass diese große und sorgfältig geplante Studie durchgeführt wurde. Unter den gut 70.000 Frauen, die in Deutschland in einem Jahr eine Brustkrebsdiagnose erhalten, sind grob geschätzt 20.000, bei denen nicht klar ist, ob sie von einer Chemotherapie profitieren. Diesen Frauen und ihren Ärztinnen und Ärzten liefert MINDACT wichtige Zahlen, um die Vor- und Nachteile einer Chemotherapie und die beschränkte Aussagekraft von Biomarker-Tests gründlich zu besprechen.“
Hürde knapp übersprungen – oder doch gerissen?
Die Studienautoren wollten in erster Linie prüfen, ob eine Therapieentscheidung aufgrund des Biomarker-Testergebnisses einer Entscheidung auf der Basis des klinischen Risikowerts unterlegen ist. Dazu legten sie vorab fest, dass nach fünf Jahren – statistisch abgesichert – mindestens 92 Prozent der Frauen mit klinisch hohem und genetisch niedrigem Risikowert, die keine Chemotherapie erhielten, noch leben und fernmetastasenfrei sein mussten. Tatsächlich war das bei 94,7 Prozent der Fall, wobei das 95-Prozent-Konfidenzintervall von 92,5 Prozent bis 96,2 Prozent reichte. Die entscheidende Untergrenze dieses Intervalls liegt haarscharf über der Hürde von 92 Prozent, womit nach Ansicht der Autoren die Nichtunterlegenheit belegt ist.
Das ist allerdings ein unorthodoxes Verständnis von Nichtunterlegenheit: Statt nur einen Studienarm zu betrachten, hätte man eigentlich das Fernmetastasen-Risiko von Frauen mit und ohne Chemotherapie vergleichen müssen. Auch wird die Hürde von 92 Prozent nach fünf Jahren nicht hergeleitet – im Unterschied zu dem Grenzwert, den das IQWiG angesetzt hat, nämlich 95 Prozent rezidivfreies Überleben nach zehn Jahren. Diese Grenze ist schon heute unterschritten. Andere Fachleute sind liberaler als das IQWiG und fordern, dass nach zehn Jahren mindestens 90 Prozent der Teilnehmerinnen fernmetastasenfrei sein müssen. Auch dieses Kriterium wird voraussichtlich nicht erfüllt: Da Experten zufolge viele Rezidive erst spät auftreten, dürfte die Untergrenze des Konfidenzintervalls in den kommenden fünf Jahren unter 90 Prozent fallen.
Eineinhalb Prozent Unterschied – oder gar vier?
Für den Auftrag, den der G-BA dem IQWiG erteilt hat, sind ohnehin andere Ergebnisse dieser Studie wichtiger: Wenn Frauen mit hohem klinischen und niedrigem genetischen Risikowert eine Chemotherapie erhalten oder aber auf sie verzichten, wie stark unterscheiden sich dann nach fünf Jahren die Zahlen der Frauen mit lokalen Rezidiven oder Fernmetastasen und insbesondere der Todesfälle? Die Studienautoren haben ermittelt, dass mit Chemotherapie 95,9 Prozent der Frauen nach fünf Jahren fernmetastasenfrei waren und ohne Chemotherapie 94,4 Prozent: ein statistisch nicht signifikanter Unterschied von etwa eineinhalb Prozent, der allerdings wegen der Unsicherheit aufgrund der beschränkten Teilnehmerzahl auch bis zu knapp vier Prozent betragen könnte.
Für die betroffenen Frauen sind aber das krankheits-, also rezidivfreie Überleben und das sogenannte Gesamtüberleben mindestens so relevant wie das fernmetastasenfreie Überleben. In der Studie wiesen alle drei Endpunkte in dieselbe Richtung. Wenn 1000 Frauen aufgrund eines niedrigen Biomarker-Testergebnisses auf eine Chemotherapie verzichten, ist demnach mit etwa 32 zusätzlichen Rezidiven (einschließlich Todesfällen) zu rechnen und mit 11 zusätzlichen Todesfällen. Aufgrund der Unsicherheit könnten es aber auch 61 zusätzliche Rezidive aller Art und 26 zusätzliche Todesfälle sein.
Wie viele Todesfälle durch Therapieverzicht sind unbedeutend?
„Nach Auffassung der Autoren sind die Unterschiede so klein, dass man den Frauen eine Chemotherapie ersparen kann“, sagt Stefan Lange. „Das würde ich gerne mit den betroffenen Frauen und Fachleuten genauer diskutieren. In den Debatten beispielsweise zur Einführung von Darmkrebs- oder Prostatakrebs-Screenings werden schon mutmaßliche Steigerungen der Überlebensraten um den Bruchteil eines Prozents als unbedingt anzustrebende Ziele ins Feld geführt. Und hier soll es unbedeutend sein, wenn von den etwa 10.000 Frauen pro Jahr, die laut Herstellerangaben dank der neuen Tests auf eine Chemotherapie verzichten könnten, bis zu 260 mehr sterben?“
Wie wägt man Chemotherapie-Schäden gegen Krebs-Schäden ab?
Nachvollziehbar wäre das, wenn dem höheren Risiko sehr deutliche Vorteile gegenüberstünden. Eine Frau, deren Tumor nach klinischen Kriterien ein hohes und nach genetischen Kriterien ein geringes Risiko für Fernmetastasen aufweist, muss abwägen zwischen den potenziellen Nebenwirkungen und Spätfolgen einer Chemotherapie einerseits und einem höheren Risiko andererseits, im weiteren Verlauf Fernmetastasen auszubilden oder gar am Krebs zu sterben.
„Bedauerlicherweise sind die meisten Aussagen zu den Nachteilen von Chemotherapien ziemlich vage“, erläutert Daniel Fleer aus dem Ressort Nichtmedikamentöse Verfahren, der den Biomarker-Bericht im IQWiG betreut hat. „Man liest immer wieder, dass schätzungsweise zwei bis drei Prozent der Chemotherapien zu schweren Schäden führen, etwa zu dauerhaften Schädigungen innerer Organe wie Herz oder Niere, bis hin zum Tod. Das sind aber nur ‚Hausnummern‘, die oftmals ohne Belege einfach so in den Raum gestellt werden. Dank MINDACT wissen die betroffenen Frauen jetzt viel besser als vorher, wie groß die Risiken eines Verzichts auf die Chemotherapie sind. Zu den entscheidungsrelevanten Nebenwirkungen werden aber bisher keine Informationen gegeben. Was also in der anderen Waagschale liegt, bleibt vorerst unklar.“
Insgesamt kommt das IQWiG zu dem Schluss, dass für keinen der derzeit angebotenen Biomarker ein Anhaltspunkt für einen Nutzen oder Schaden einer biomarkerbasierten Strategie zur Entscheidung für oder gegen eine adjuvante Chemotherapie beim primären Mammakarzinom vorliegt. Gegenwärtig kann man einer Frau mit klinisch hohem und genetisch niedrigem Risiko nicht guten Gewissens von einer Chemotherapie abraten. Der tatsächliche „Mehrwert“ der Biomarker-Tests für die Betroffenen kann erst beurteilt werden, wenn weitere Ergebnisse der laufenden Studien vorliegen.
Zum Ablauf der Berichtserstellung
Die vorläufigen Ergebnisse, den sogenannten Vorbericht, hatte das IQWiG im November 2015 veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Nach dem Ende des Stellungnahmeverfahrens wurde der Vorbericht überarbeitet und als Abschlussbericht im Oktober 2016 an den Auftraggeber versandt. Die eingereichten schriftlichen Stellungnahmen werden in einem eigenen Dokument zeitgleich mit dem Abschlussbericht publiziert. Der Bericht wurde gemeinsam mit externen Sachverständigen erstellt.