Die DGHO-Pressemitteilung wurde inzwischen auch von den Medien aufgegriffen. IQWiG-Leiter Prof. Dr. med. Peter T. Sawicki nimmt diese Presseberichte zum Anlass, zu den Aussagen des DGHO-Vorsitzenden Stellung zu nehmen. Denn es ist zu befürchten, dass betroffene Patientinnen und Patienten aufgrund der aktuell verbreiteten Fehlinformationen unnötige Risiken eingehen: Sie könnten das in Verdacht geratene Glargin verwenden, obwohl sie ihren Diabetes genauso gut mit dem sicheren Humaninsulin behandeln könnten.
Neue Erkenntnisse über Krebs-Risiko sollten Folgen für die Behandlung haben
Der in der Juni-Ausgabe von "Diabetologia" erschienene Artikel basiert auf einer Auswertung der Abrechnungs-Daten von rund 130.000 in der AOK versicherten Diabetes-Patienten. Ergebnis war, dass bei Patientinnen und Patienten, die ausschließlich Glargin spritzen häufiger Krebs diagnostiziert wurde als bei Patienten, die Humaninsulin verordnet bekamen. Wie die Autoren hervorheben, ist dies kein eindeutiger Beweis, dass Glargin die Ursache ist. Allerdings wecken die Ergebnisse einen dringenden Verdacht, der Folgen für die Behandlung der Patienten haben sollte.
Denn ein erhöhtes Krebsrisiko von Glargin wird bereits seit rund 10 Jahren diskutiert. Zunächst lieferten experimentelle Studien entsprechende Hinweise und erst vor wenigen Monaten stellte das Krebsforschungszentrum Heidelberg (DKFZ) in einer sogenannten In-vitro-Studie fest, dass Glargin schon bei sehr geringen Dosierungen das Wachstum von Brustkrebszellen deutlich stärker anregt als Humaninsulin. Schließlich liefern auch zwei weitere, zeitgleich in "Diabetologia" publizierte Studien aus Schottland und Schweden Hinweise auf einen Zusammenhang.
DGHO-Mitteilung offenbart Unkenntnis von Studienlage und wissenschaftlichen Standards
Um die Aussagekraft des Diabetologia-Beitrags anzuzweifeln, hatte der DGHO-Vorsitzende den Autoren schwere methodische Fehler unterstellt. So behauptet Gerhard Ehninger unter anderem. die Publikation vergleiche "Äpfel mit Birnen" und "könne nicht angeben, welcher Diabetestyp vorliege".
Tatsächlich geht aus dem Artikel aber hervor, dass es sich zum überwiegenden Teil um Patienten mit Typ-2-Diabetes handelt. Das Krebsrisiko für Humaninsulin im Vergleich zu Glargin wird zudem für Typ-2-Diabetes getrennt berechnet und ausgewiesen: Für diese rund 100.000 Patientinnen und Patienten steigt das Risiko, eine Krebsdiagnose zu bekommen in Abhängigkeit von der Dosis.
Zwar gibt es in den Abrechnungsdaten der AOK keine direkte Zuordnung zu Typ-1- oder Typ-2-Diabetes. Da aber nur bei Typ-2-Diabetikern - im Unterschied zu Typ-1-Diabetikern - orale Antidiabetika verordnet werden, konnten Patienten mit Typ-2-Diabetes für die Auswertung anhand dieser zusätzlich verschriebenen Medikamente identifiziert und so gesondert betrachtet werden. Dies ist klar in der Diabetologia-Publikation beschrieben.
Dass andere mögliche Einflussfaktoren, zum Beispiel Übergewicht und Rauchen in den Abrechnungsdaten nicht zur Verfügung standen, wird in der Publikation ausführlich dargestellt. Entgegen der Behauptung von Gerhard Ehninger könnten diese Faktoren aber nur dann die Ergebnisse erklären, wenn Glargin bei Rauchern oder Übergewichtigen häufiger verordnet worden wäre als Humaninsulin. Für diese Annahme gibt es aber keinerlei Hinweise. Im Gegenteil: Patienten, die Glargin erhielten, waren im Mittel "gesünder" als Patienten mit Humaninsulin, was gegen mehr Raucher und Übergewichtige in dieser Gruppe spricht.
Darüber hinaus verkennt der DGHO-Vorsitzende, dass die Insulinwirkung vor allem von der Höhe der Dosis abhängt. Somit ist eine aussagekräftige Gegenüberstellung verschiedener Insulinwirkstoffe nur in vergleichbaren Dosen sinnvoll. "Entweder hat er unsere Publikation in Diabetologia nicht richtig gelesen oder nicht verstanden oder er verdreht bewusst die Fakten ", kommentiert Sawicki.
Adjustierung von Störfaktoren ist internationaler Standard der Biometrie
Der DGHO-Vorsitzende behauptet zudem reißerisch, für die Publikation seien Daten manipuliert worden, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Tatsächlich sind die von den Autoren durchgeführten rechnerischen Anpassungen (Adjustierung) in Kohortenstudien unbedingt notwendig. Nur so kann man den Einfluss anderer möglicher Faktoren, wie beispielsweise das Alter und die Medikamentendosis bei der Berechnung des Krebsrisikos berücksichtigen. Diese statistischen Anpassungen sind im Übrigen keine Spezialität des "Diabetologia"-Artikels oder des IQWiG, sondern seit langem internationaler Standard in der Biometrie.
Rat des DGHO-Vorsitzenden ist angesichts der aktuellen Datenlage verantwortungslos
Beim derzeitigen Wissensstand insulinpflichtigen Diabetes-Patienten zu raten, keinesfalls auf ein anderes Insulin umzustellen, hält Peter Sawicki für gefährlich. "Mehrere voneinander unabhängige Studien weisen auf ein erhöhtes Krebsrisiko von Glargin hin. Dies alles begründet einen dringenden Verdacht, dem nun ernsthaft nachgegangen werden muss. Aussagekräftige entlastende Studien gibt es dagegen nicht. Und die Vorteile von Glargin in der Diabetestherapie sind bestenfalls marginal", so Sawicki. "Angesichts dieser Datenlage davon zu sprechen, dass Patienten sicher sein können und unbedingt bei Glargin bleiben sollen, ist verantwortungslos. Dieser Rat ist zudem nicht vereinbar mit dem ethischen Grundgebot der Ärzteschaft, primum nil nocere' -, zuallererst nicht schaden'. Schließlich gibt es Alternativen zu Glargin."
Nur vordergründig geht es um Glargin
Auffällig ist, dass in der DGHO-Pressemitteilung nicht alle Autoren der internationalen Studiengruppen, sondern einzig Peter Sawicki persönlich scharf attackiert werden: "Ich habe den Eindruck, dass es Gerhard Ehninger auch nicht wirklich um eine gute und sichere Insulintherapie bei Diabetes geht. Vielmehr scheint er die aktuelle Debatte um Glargin nutzen zu wollen, um mich - und damit das Institut - zu beschädigen."
Im Stil ähnliche Auseinandersetzungen hatte es zwischen dem IQWiG und Gerhard Ehninger bereits in der Vergangenheit gegeben. Denn das IQWiG hatte auch den Nutzen bestimmter Formen der Stammzelltransplantation bei Krebserkrankungen bewertet. "Mit den Ergebnissen dieser Berichte ist Gerhard Ehninger nicht einverstanden, konnte sie wissenschaftlich aber nicht entkräften. Stattdessen macht er jetzt stellvertretend Front gegen den Glargin-Artikel. Allerdings sind seine Argumente auch diesmal nicht stichhaltig."