"Die 'Analyse der Effizienzgrenze' ist die für die deutschen Rahmenbedingungen am besten geeignete Methode", erklärte Institutsleiter Peter Sawicki. "Auch in den diversen Stellungnahmerunden hat niemand einen praktikableren Alternativ-Vorschlag unterbreitet. Anders als einige Kritiker behaupten, machen wir auch nicht alles völlig anders als andere Länder. Unser Vorgehen unterscheidet sich deutlich von dem in Großbritannien, es gibt aber eine ganze Reihe von Parallelen zu Australien."
Nutzen kommt stets vor Kosten
Die vom IQWiG gewählte Methode soll insbesondere dem GKV-Spitzenverband ermöglichen, einen Höchstbetrag festzulegen, bis zu dem die Krankenkassen die Kosten für neue Arzneimittel übernehmen. Damit diese Regelung nicht dazu führt, dass Patienten durch echte Therapieverbesserungen zusätzlich finanziell belastet werden, dürfen Höchstbeträge laut Gesetz nur unter zwei Bedingungen festgelegt werden: Die Arzneimittel müssen gegenüber anderen Therapien einen Zusatznutzen haben. Arzneimittel, zu denen es bislang keine zweckmäßige Alternative gibt, sind von der Bewertung ausgeschlossen.
Um sicherzustellen, dass diese Bedingungen erfüllt sind, hat das IQWiG ein zweistufiges Verfahren gewählt: Der erste Schritt ist die Analyse des medizinischen Nutzens eines Arzneimittels im Vergleich mit Therapiealternativen nach den Methoden der evidenzbasierten Medizin. Nur wenn in dieser Nutzenbewertung ein Zusatznutzen erkennbar ist, kann sich eine Kosten-Nutzen-Bewertung anschließen.
Im zweiten Schritt ermitteln die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Kosten und stellen die wesentlichen Nutzen- und Kostenaspekte einander gegenüber. Aus den Verhältnissen zwischen Kosten und Nutzen lassen sich Effizienzgrenzen ableiten und übersichtlich in Grafiken darstellen, mit denen effiziente Interventionen erkannt werden können.
IQWiG liefert Empfehlungen für angemessene Höchstbeträge
Schließlich formuliert das Institut auf Basis der Effizienzgrenze eine Empfehlung, welcher Betrag für ein Arzneimittel angemessen ist. Für die Festlegung des konkreten Höchstbetrags ist jedoch der GKV-Spitzenverband zuständig. Dabei muss er neben der IQWiG-Empfehlung auch Entwicklungskosten der Hersteller berücksichtigen. Darüber hinaus kann er auch weitere Aspekte wie etwa die Schwere oder Häufigkeit der Erkrankung einbeziehen.
Laut Gesetz soll die Kosten-Nutzen-Bewertung letztlich dazu dienen, für bestimmte Arzneimittel einen Höchstbetrag festzulegen, der dem Nutzenzuwachs "angemessen" ist. Das IQWiG geht davon aus, dass Angemessenheit dann gegeben ist, wenn die neue Therapie mindestens so effizient ist wie die bereits vorhandenen Therapien für diese Krankheit.
Auswirkungen auf Gesamtausgaben für die Kassen werden geschätzt
Auch wenn der Preis für eine neue Gesundheitstechnologie "angemessen" sein sollte, heißt das nicht, dass er für die Versichertengemeinschaft bezahlbar und damit zumutbar ist. Das IQWiG wird deshalb in einer sogenannten Ausgaben-Einfluss-Analyse (Budget-Impact-Analyse) auch eine Schätzung darüber abgeben, welche Auswirkungen ein bestimmter Höchstbetrag auf die Gesamtausgaben der Versichertengemeinschaft haben kann.
Dabei werden die Kosten in der Regel aus der Perspektive der Versichertengemeinschaft beschrieben. Je nach Thema können jedoch auch andere Kosten wie etwa für die Pflege aus Sicht der Sozialversicherungsträger oder Produktivitätsverluste aus der Sicht der Gesellschaft eingeschlossen werden.
Kein indikationsübergreifender Schwellenwert
Anders als beispielsweise das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) in Großbritannien vergleicht das IQWiG Kosten-Nutzen-Verhältnisse jeweils nur für eine Erkrankung. Es gibt auch keinen sogenannten indikationsübergreifenden Schwellenwert, d.h. eine einheitliche Kostenobergrenze unabhängig von der Art der Erkrankung. Ein solcher Schwellenwert stünde auch nicht im Einklang mit dem deutschen Sozialgesetzbuch.
Zudem gibt es nach Auffassung des IQWiG eine grundlegende kulturelle Differenz: "Die utilitaristische Denkweise, wie sie dem britischen Konzept zugrunde liegt, würde in Deutschland nicht akzeptiert werden", ist sich Peter Sawicki sicher. "Diese Gewinnmaximierungsethik führt beispielsweise dazu, dass Krebspatienten das teure Medikament Avastin nicht bekommen können, weil die Kosten im Verhältnis zur Lebensverlängerung als zu hoch erscheinen. Dagegen werden Diabetes-Patienten die Insulinanaloga trotz ihres fraglichen Zusatznutzens erstattet, weil die höheren Kosten im Vergleich zum vermeintlichen Zugewinn an Lebensqualität als angemessen erscheinen. So etwas würde bei uns als ungerecht wahrgenommen werden", so Sawicki.
Deutliche Parallelen zum australischen Konzept
Auch wenn Deutschland einen anderen Weg geht als Großbritannien, beschreitet das IQWiG mit der "Analyse der Effizienzgrenze" im internationalen Vergleich keineswegs komplett Neuland. Zum einen nutzt das IQWiG Instrumente, die in der Gesundheitsökonomie international anerkannt sind. Zum anderen gibt es durchaus Länder, deren Vorgehen dem deutschen ähnelt. So gibt es deutliche Parallelen zu Australien, dem Land mit der längsten Erfahrung in Sachen Kosten-Nutzen-Bewertungen.
Seit 1993 empfiehlt dort das Pharmaceutical Benefits Advisory Committee (PBAC) Höchstpreise für Arzneimittel auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Verhältnissen. Wie künftig das IQWiG stellt das PBAC dar, wie viel es kosten würde, einen bestimmten zusätzlichen Nutzen mit der neuen Therapie gegenüber bestehenden Alternativen zu erreichen.
Dabei betrachtet das australische Schwesterinstitut zunächst nur Kosten, die im Zusammenhang mit der jeweiligen Erkrankung im Gesundheitssektor selbst anfallen. Weiterreichende finanzielle Folgen, wie etwa Auswirkungen auf die Pflege oder auf die Produktivität werden in ergänzenden Analysen dargestellt. Auch das IQWiG wählt primär die Perspektive der Versichertengemeinschaft.
Das PBAC setzt - wie das IQWIG - klinische Nutzenmaße wie etwa Sterblichkeit oder Lebensqualität ein, die NICE nicht verwendet. Während die britischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fast ausschließlich mit dem sogenannten QALY (Quality Adjusted Life Years, qualitätsbereinigtes Lebensjahr) arbeiten, verwenden es ihre australischen Kollegen mit Einschränkungen. Bei der Maßeinheit QALY wird versucht, die Lebensverlängerung mit der Lebensqualität der Patienten zu verrechnen.
Nach den inzwischen 15jährigen Erfahrungen stellt das australische Schwesterinstitut des IQWiG jedoch warnend fest, dass die einfache Möglichkeit, mit Hilfe von QALYs indikationsübergreifende Vergleiche anstellen zu können, einen hohen Preis hat. Denn die sogenannten Nutzwertgewichte, die dafür nötig sind, beruhen oft auf vielen unklaren Annahmen und machen die gesundheitsökonomische Bewertung potenziell unsicherer, als dies mit klinischen Nutzenmaßen der Fall wäre.
Methoden-Entwürfe wurden breit diskutiert
Rund 2 Jahre arbeitete das IQWiG gemeinsam mit nationalen und internationalen Experten an den Methoden. In mehreren Stellungnahmerunden hatten alle Akteure im deutschen Gesundheitswesen Gelegenheit Anregungen und Kritik vorzutragen. "Die Diskussion unserer Methoden-Entwürfe hat viel Zeit gekostet. Aber wenn man einen transparenten Prozess mit weitgehenden Anhörungs- und Beteiligungsmöglichkeiten von Industrie, Kassen, Ärzten, Kliniken, Patienten und der Politik selbst will, dann muss man den Zeitaufwand in Kauf nehmen", erläutert Peter Sawicki.
Dabei galt es, sich auf verschiedene Betrachtungsweisen einzulassen, der Perspektive der Medizin und der Ökonomie ebenso wie die von Recht und Ethik. "Diese Disziplinen sprechen verschiedene Fachsprachen und haben je eigene Festlegungen. Die Verständigung dauert deshalb länger als innerhalb eines einzigen Fachs", so der IQWiG-Leiter.
Doch die Mühe der Diskussion hat sich nach Ansicht von Peter Sawicki gelohnt: "Wir haben jetzt eine Methode, die sicherstellt, dass niemandem notwendige Leistungen vorenthalten werden. Das darf nicht sein - schon gar nicht, solange wir uns in der Medizin noch immer Dinge leisten, die nicht notwendig, sondern überflüssig sind."
Analyse der Effizienzgrenzen wird laufend weiterentwickelt
Das jetzt vorliegende Methodenpapier ist Grundlage für die Bearbeitung von Aufträgen, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) erteilen kann mit dem Ziel, die Empfehlungen für die Festlegung von Höchstbeträgen durch den GKV-Spitzenverband zu nutzen. Der G-BA hat angekündigt, bald nach Fertigstellung des Papiers eine erste Kosten-Nutzen-Bewertung zu beauftragen. Wie die Methoden zur Nutzenbewertung werden auch die Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung laufend überarbeitet werden, um sich aktuellen Anforderungen und Entwicklungen in Forschung und Gesundheitswesen anzupassen.
Entwickelt wurde das Verfahren, um dem GKV-Spitzenverband für die Festsetzung von Höchstbeträgen eine Empfehlung an die Hand zu geben. Es ist jedoch über diesen im Fünften Sozialgesetzbuch (§ 35b) definierten Zweck hinaus geeignet, angemessene Kosten-Nutzen-Verhältnisse für jegliche Therapien zu bestimmen. So wäre beispielsweise denkbar - nach einer entsprechenden Gesetzesänderung - alle Medikamente unmittelbar nach der Zulassung nach dieser Methode zu bewerten, um auf diesem Weg einen angemessenen Preis zu ermitteln.
Zeitgleich mit den "Allgemeinen Methoden zur Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten" werden eine Würdigung der Stellungnahmen zum Entwurf 2.0 der Methoden sowie Arbeitspapiere zu den Themen "Kosten" und "Modellierung" publiziert. In englischer Übersetzung werden Methoden und Arbeitspapiere in etwa drei Wochen folgen.