Aus der Nutzenbewertung ergibt sich ein Anhaltspunkt für einen Nutzen des Neugeborenen-Screenings auf SCID: Eine frühe Untersuchung kombiniert mit einer Infektionsprophylaxe und einer kurativen Anschlussbehandlung (allogene Knochenmark- oder Stammzelltransplantation) kann schwere oder tödliche Infektionen bei den betroffenen Kindern vermeiden.
Schwere und extrem seltene Erkrankung bei Kleinkindern
Der Ausfall der Immunabwehr bei SCID ist genetisch bedingt und hat eine Entwicklungshemmung von lebenswichtigen Immunzellen (T-Lymphozyten, B-Lymphozyten, NK-Zellen) zur Folge. Kinder mit SCID sind deshalb bereits im Säuglingsalter extrem infektionsanfällig und zeigen auch Wachstumsstörungen.
Unbehandelt sterben die meisten Kleinkinder mit SCID innerhalb von ein bis zwei Jahren. Wie viele Kinder in Deutschland mit SCID geboren werden, ist nicht bekannt. Statistiken der gesetzlichen Krankenversicherung berichten für das Jahr 2013 von 21 Fällen bei unter einjährigen Kindern.
Standardbehandlung: Infektionsprophylaxe und Transplantation
Derzeit wird SCID mit einer allogenen Knochenmark- oder Stammzelltransplantation behandelt: Dabei werden die insuffizienten Stammzellen des Kindes durch die eines geeigneten Spenders ersetzt, um die Immunfunktion des Kindes aufzubauen. Die Frage nach dem optimalen Transplantationszeitpunkt und der Notwendigkeit einer Chemotherapie bei Neugeborenen mit SCID wird derzeit kontrovers diskutiert.
Bereits vor Einleitung einer kurativen Therapie müssen die Neugeborenen durch vorbeugende und unterstützende Maßnahmen stabilisiert werden, beispielsweise strenge hygienische Vorsichtsmaßnahmen, eine Prophylaxe gegen Infektionen und den Ersatz von Antikörpern.
Routine-Test noch ohne SCID
In Deutschland wird das sogenannte erweiterte Neugeborenen-Screening durchgeführt, um frühzeitig Krankheiten zu erkennen, die die körperliche oder geistige Entwicklung gefährden könnten. Welche Krankheiten dies sind und welche Tests angewendet werden sollen, legt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in der sogenannten Kinder-Richtlinie fest.
Das Screening auf SCID ist dort noch nicht verankert. Beim Neugeborenen-Screening wird unter anderem getrocknetes Blut aus den ersten Lebensstunden (48-72h) analysiert, das auch zur Bestimmung des Immunstatus und damit zur SCID-Diagnose verwendet werden könnte.
Der G-BA hatte das IQWiG beauftragt, Nutzen und Schaden eines Screenings von Neugeborenen auf SCID in Kombination mit einer kurativen Therapie zu bewerten. Ziel ist es, Kinder mit SCID bereits vor der ersten Infektion zu identifizieren und eine idealerweise kurative Therapie frühzeitig zu starten. Dadurch sollen sich die Chancen erhöhen, Schäden und Todesfälle zu vermeiden.
Datenlage noch lückenhaft: Studienergebnisse stehen noch aus
Weil SCID eine extrem seltene und schwere Erkrankung ist, hatte das IQWiG den methodischen Rahmen für die Nutzenbewertung weit gefasst: von Analysen einzelner Bausteine der Screening-Kette bis hin zu Studien niedriger Evidenzstufen, etwa retrospektiven Analysen. Zwei vergleichende Interventionsstudien liefern verwertbare Ergebnisse zur Sterblichkeit (Mortalität).
Daten zum Auftreten von Infektionen (Morbidität) wurden nur unvollständig berichtet, deshalb ist zu diesem Endpunkt keine Nutzenaussage möglich. Zu allen anderen Endpunkten (z. B. Krankenhausaufenthalte, Entwicklungsstörungen, gesundheitsbezogene Lebensqualität) lagen keine Studienergebnisse vor. Eine Interventionsstudie in Frankreich läuft noch bis Juni 2018 und lässt auch Daten zum Nutzen erwarten.
Je früher die Behandlung, desto weniger Todesfälle
Eine retrospektive Datenanalyse von 108 Kindern in zwei englischen Krankenhäusern zeigte einen deutlichen Unterschied zwischen den Behandlungsgruppen: In der Gruppe von 60 Patienten mit frühem Behandlungsbeginn gab es sechs Todesfälle (10 %), während in der Vergleichsgruppe mit späterem Therapiebeginn 29 von 48 Patienten (60 %) starben.
Auch in einer zweiten Studie zeigte sich ein deutlicher Vorteil bei einer früheren (Alter < 3,5 Monate) im Vergleich zu einer späteren Transplantation (Alter > 3,5 Monate): Von 21 Kindern der Interventionsgruppe starb eines (5 %), in der Vergleichsgruppe mit 96 Patienten kam es zu 25 Todesfällen (26 %).
Insgesamt lässt sich daraus ein Anhaltspunkt für einen Nutzen des früheren Behandlungsbeginns mit einer Infektionsprophylaxe und anschließender Stammzelltransplantation ableiten. Eingeschränkt ist die Ergebnissicherheit durch das Studiendesign (nicht randomisiert und retrospektiv) und die Unvollständigkeit der Daten.
Diagnostische Güte: Test identifiziert SCID, aber Fehlerquote unklar
Die Datenlage aus fünf relevanten Studien zur diagnostischen Güte reicht nicht aus, um Sensitivität und Spezifität zu berechnen, deshalb bleibt auch die Anzahl von falsch-negativen und richtig-negativen Befunde unklar. Allerdings ist dieser Test grundsätzlich geeignet, um Neugeborene mit SCID zu identifizieren.
Unklar ist, wie viele Kinder mit SCID nicht gefunden werden. In der noch laufenden französischen Studie sollen bis 2018 auch Daten zur Sensitivität und Spezifität erhoben werden, sodass sich auch diese Teilfrage bald präziser beantworten lässt.
Insgesamt ist im deutschen Versorgungskontext anhand der vorliegenden Daten zur Krankheitshäufigkeit (Prävalenz) davon auszugehen, dass ein SCID-Screening aller Neugeborenen auf Basis des Gehalts von T-Zellen im Filterkartenblut (TREC) bei jährlich 70.000 Geburten alle etwa 20-30 erkrankten Neugeborenen identifizieren könnte.
Möglicher Schaden bleibt begrenzt
Da sich positive Testbefunde durch einen anschließenden Gentest abklären lassen, sind unnötige Behandlungen durch das Screening nicht zu befürchten. Einen möglichen Schaden hätten bei falsch-positivem Testergebnis allerdings die Eltern: Sie sind in der Zwischenzeit psychisch belastet, auch wenn der Gentest am Ende "Entwarnung" gibt.
Schädliche Folgen falsch-negativer Testergebnisse sind dann denkbar, wenn anderweitige Anzeichen für SCID wegen des unauffälligen Testergebnisses nicht mit weitergehender Diagnostik nachgegangen würde. Dann wäre es möglich, dass notwendige medizinische Interventionen verzögert werden, allerdings sollte das im vorliegenden Fall sehr unwahrscheinlich sein. Überdies schließt ein negatives Testergebnis Neugeborene nicht von den übrigen Untersuchungen nach bisherigem diagnostischem Standard aus.
Zum Ablauf der Berichtserstellung
Die vorläufigen Ergebnisse, den sogenannten Vorbericht, hatte das IQWiG im Juli 2016 veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Nach dem Ende des Stellungnahmeverfahrens wurde der Vorbericht überarbeitet und als Abschlussbericht im November 2016 an den Auftraggeber versandt. Die eingereichten schriftlichen Stellungnahmen werden in einem eigenen Dokument zeitgleich mit dem Abschlussbericht publiziert. Der Bericht wurde gemeinsam mit externen Sachverständigen erstellt.