Das Institut kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Ticagrelor für Patientinnen und Patienten mit einem "leichteren" Herzinfarkt ohne typische EKG-Veränderungen (NSTEMI) oder mit einer instabilen Angina pectoris (IA) einen beträchtlichen Zusatznutzen hat, da Ticagrelor das Risiko für Todesfälle und Herzinfarkte senkt. Für "schwerere" Herzinfarkte (STEMI), bei denen das EKG meist in charakteristischer Weise verändert ist, fehlen entsprechende Belege jedoch.
IQWiG bewertet, G-BA beschließt
Die Firma AstraZeneca hatte den Wirkstoff entwickelt und zum Jahresbeginn unter dem Handelsnamen Brilique ® in Deutschland auf den Markt gebracht. Das zum 1. Januar 2011 in Kraft getretene Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) sieht vor, dass sich neue Arzneimittel regelhaft einer Nutzenbewertung unterziehen müssen. Dafür hat der pharmazeutische Unternehmer ein Dossier vorzulegen, in dem er Belege für den Zusatznutzen im Vergleich zur "zweckmäßigen Vergleichstherapie" erbringt. Die zweckmäßige Vergleichstherapie wird vom Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA) festgelegt.
Der G-BA ist für den gesamten Prozess verantwortlich, kann mit der Bewertung der Hersteller-Dossiers jedoch - wie im Fall von Ticagrelor - das IQWiG beauftragen. Das IQWiG gibt eine Empfehlung, wie der Zusatznutzen zu bewerten ist, über den der G-BA nach einem Stellungnahmeverfahren förmlich beschließt. Erst mit diesem Beschluss ist die Bewertung abgeschlossen.
Vorteil bei Sterblichkeit und Herzinfarkt
Für die Indikation IA oder NSTEMI, für die der G-BA Clopidogrel als zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt hatte, konnte der Hersteller anhand von Daten der PLATO-Studie belegen, dass Ticagrelor Patientinnen und Patienten Vorteile bietet: Bei Ticagrelor kommt es seltener zu Todesfällen als bei Clopidogrel. Auch Herzinfarkte traten unter Ticagrelor seltener auf, allerdings blieb dabei unklar, wie häufig es sich um relevante, also spürbare Herzinfarkte handelte.
Keine Belege, dass schwere Blutungen häufiger auftreten
Medikamente, die Teile des Gerinnungssystems im Blut hemmen, erhöhen in der Regel auch das Risiko für Blutungen. Schwere Blutungen traten bei der Behandlung mit Ticagrelor aber nicht häufiger auf als bei der Behandlung mit Clopidogrel. Einen Beleg für einen höheren Schaden von Ticagrelor fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler indes in Hinblick auf Studienabbrüche wegen unerwünschter Ereignisse und Atemnot (Dyspnoe).
Zusatznutzen mittlerer Kategorie bei IA und NSTEMI
Die Einzelergebnisse abwägend, stuft das IQWiG den Zusatznutzen von Ticagrelor gegenüber Clopidogrel bei Patientinnen und Patienten mit IA oder NSTEMI insgesamt als "beträchtlich" ein. Um das Ausmaß der Zusatznutzens festzustellen, hat der Gesetzgeber drei Stufen vorgegeben: "gering", "beträchtlich" und "erheblich". Dabei soll nach den vom Gesetzgeber formulierten Anforderungen die höchste Kategorie allerdings Medikamenten vorbehalten sein, die als "nachhaltige ... bisher nicht erreichte große Verbesserung", also als Durchbruch für die Behandlung einer Erkrankung angesehen werden können.
Kein Beleg für Zusatznutzen bei Patienten mit STEMI
Was Patientinnen und Patienten mit STEMI betrifft, lieferte das Dossier keine Belege für einen Zusatznutzen von Ticagrelor: Für Patienten, bei denen nach einem STEMI die Herzkranzgefäße mittels eines Ballonkatheters geweitet wurden (PCI), zeigte der Vergleich mit Prasugrel, einem anderen Gerinnungshemmer, keine Vorteile. Für Patienten, die nach einem STEMI nur medikamentös behandelt werden oder eine Bypass-Operation bekommen, legte der Hersteller keine aussagekräftigen Daten vor. Dies lag auch daran, dass AstraZeneca von der vom GBA festgelegten zweckmäßigen Vergleichstherapie für die Indikation STEMI abwich. Diese Abweichung hat AstraZeneca aus Sicht des IQWiG nicht ausreichend begründet, da sie zum Teil sogar dem Zulassungsstatus der Gerinnungshemmer widerspricht.
Gesetz verlangt Abwägung von Nutzen und Schaden
"Bei Tricagrelor sind Herzinfarkte und Todesfälle seltener als bei Clopidogrel. Allerdings gibt es auch Belege für einen höheren Schaden, etwa in Form von häufiger auftretender Atemnot. Diese Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen ist schwierig", erklärt Institutsleiter Jürgen Windeler. "Hier fließen Werturteile ein und eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Methodik, wie man solche Abwägungen treffen kann, gibt es bislang nicht."
Dennoch muss das IQWiG eine solche Abwägung treffen, denn der Gesetzgeber verlangt bei der Nutzenbewertung gemäß AMNOG ausdrücklich eine Gesamtaussage auch zum Ausmaß des Zusatznutzens. "Wir haben erläutert, wie wir zu unserer Bewertung einzelner Endpunkte gelangt sind und wie wir die Gesamtaussage abgeleitet haben. Wir möchten dies ausdrücklich als Vorschlag verstanden wissen", so Windeler. Nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Methodik könne im Stellungnahmeverfahren beim G-BA thematisiert werden. "Wir hoffen und wünschen, dass das Vorgehen, das wir im Fall von Ticagrelor gewählt haben, Anstoß für eine wissenschaftliche Debatte gibt."
Patienten und externe Sachverständige beteiligt
Auch bei Dossierbewertungen des IQWiG sind regelhaft sowohl externe Sachverständige als auch Patienten eingebunden. Aufgrund des engen Zeitrahmens werden diese vorrangig schriftlich befragt: Medizinisch-fachliche Berater, in der Regel Fachärztinnen und -ärzte, sowie Vertreter der betroffenen Patientinnen und Patienten geben anhand von Fragebögen Auskunft darüber, was bei der Behandlung der jeweiligen Erkrankung aus ihrer Sicht besonders zu beachten ist.
Praktikables und transparentes Verfahren
Das IQWiG hat die Dossierbewertung Ende September 2011 an den G-BA übergeben, der sie - zusammen mit dem Hersteller-Dossier - am 4. Oktober 2011 veröffentlicht und ein Stellungnahmeverfahren eröffnet hat. Planmäßig wird der G-BA binnen drei Monaten nach der Publikation über die Bewertung beschließen. "Dass nicht nur die Bewertung des IQWiG veröffentlicht wird, sondern auch der Hersteller alle relevanten Daten offen legen muss, ist ein echter Meilenstein - und das weltweit", erklärt Thomas Kaiser, Leiter des Ressorts Arzneimittelbewertung. Nicht nur deshalb werde auch die internationale Fachwelt die frühe Nutzenbewertung mit großem Interesse verfolgen.
Aus Sicht des Instituts hat das AMNOG-Verfahren damit den ersten Praxistest bestanden: "Es ist praktikabel und auch im Detail umsetzbar", resümiert Jürgen Windeler. Die gesetzlichen Vorgaben hätten sich als angemessen erwiesen. "Und die erste Bewertung, die dem Wirkstoff einen Zusatznutzen bescheinigt, hat auch gezeigt, dass die immer wieder laut vorgetragenen Befürchtungen der Industrie unbegründet sind. Der Standort Deutschland ist auch mit AMNOG nicht in Gefahr", so Windeler.