Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) veröffentlichte im Jahr 2020 Kriterien für die Verwendbarkeit von versorgungsnah erhobene Daten in der Nutzenbewertung von Arzneimitteln. In einem Rapid Report gab das Institut Herstellern und Registerbetreibern konkrete Empfehlungen für die versorgungsnahe Datenerhebung.
„Gut zwei Jahre nach Veröffentlichung unseres Berichts müssen wir allerdings konstatieren, dass die Hersteller unsere damals definierten Anforderungen an versorgungsnahe Datenerhebungen nicht so auslegen, wie wir uns das wünschen“, sagt Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung, und nennt als Beispiele die Herstellerdossiers zu den Wirkstoffen Amivantamab, Nivolumab, Dostarlimab und Lanadelumab.
Amivantamab: Fehlende Daten zur Patientenselektion und zur Risikoadjustierung
In einer frühen Nutzenbewertung hatte das IQWiG zu bewerten, ob die Monotherapie mit Amivantamab erwachsenen Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenem nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom (NSCLC) einen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie bietet.
Um einen Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie nachzuweisen, zog der Hersteller Daten aus zwei Registern heran. Das Problem: In diesen Registern fehlten Daten zur Ausprägung ganz wesentlicher Patientencharakteristika (Gesundheitszustand, Schwere der Erkrankung, Art ihrer Vorbehandlung). Darüber hinaus enthielten die Register keine Daten zu wichtigen Endpunkten. Obwohl dem Hersteller das Fehlen dieser Informationen bewusst war und er die fehlenden Patientencharakteristika teilweise selbst als relevante Störgrößen („Confounder“) identifiziert hatte, zog er daraus keine entsprechenden Konsequenzen, sondern wollte ohne Berücksichtigung dieser Aspekte einen Zusatznutzen für Amivantamab ableiten.
Nivolumab: Relevanter Risikounterschied in den Populationen
In einer frühen Nutzenbewertung hatte das IQWiG zu bewerten, ob die Behandlung mit Nivolumab in Kombination mit Ipilimumab Erwachsenen mit kolorektalem Karzinom einen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie bietet.
Um einen Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie nachzuweisen, verwendete der Hersteller Routinedaten aus der US-amerikanischen Flatiron-Health-Datenbank. Das Problem: Die Region ist ein wichtiger Einflussfaktor, denn in der Nivolumab-Studie war die Sterblichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten in den USA um zehn Prozentpunkte höher als in Europa. Der Hersteller identifizierte diesen Einflussfaktor zwar, berücksichtigte ihn aber nicht in seiner Analyse. Darüber hinaus waren in die Zulassungsstudie zu Nivolumab nur Patientinnen und Patienten eingeschlossen, die keine Nebenwirkungen aus vorhergehenden Therapien aufwiesen und keine auffälligen Laborwerte hatten. Für die zweckmäßige Vergleichstherapie war diese Selektion nicht möglich, weil diese Informationen in den US-Routinedaten nicht erfasst waren. Es gab also einen relevanten Risikounterschied zwischen den beiden betrachteten Populationen, beachtet wurde dies vom Hersteller jedoch nicht.
Dostarlimab: Biomarker nicht im Datensatz zur Vergleichstherapie enthalten
In einer weiteren frühen Nutzenbewertung hatte das IQWiG zu bewerten, ob die Behandlung mit Dostarlimab Patientinnen mit Endometriumkarzinom, deren Tumor eine Mismatch-Reparatur-Defizienz (dMMR) bzw. eine hohe Mikrosatelliteninstabilität (MSI-H) aufweist, einen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie bietet.
Während der pharmazeutische Unternehmer für die Zulassung von Dostarlimab ausschließlich Daten von Patientinnen mit dMMR/MSI-H vorgelegt hatte, berücksichtigte er den MMR-MSI-Status bei der Studienselektion zur zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht. Für die Beurteilung der Ähnlichkeit der Studienpopulationen wäre der MMR/MSI-Status jedoch ein relevantes Kriterium gewesen. Darüber hinaus ist der Biomarker ein wichtiger prognostischer Faktor beim Endometriumkarzinom.
Lanadelumab: Zu vergleichende Populationen waren zu unterschiedlich
In einer anderen frühen Nutzenbewertung hatte das IQWiG schließlich zu bewerten, ob eine Behandlung mit Lanadelumab zur routinemäßigen Prophylaxe von wiederkehrenden Attacken des hereditären Angioödems Patientinnen und Patienten einen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie bietet.
Für die Zulassung von Lanadelumab hatte eine placebokontrollierte Studie ausgereicht. Für die frühe Nutzenbewertung versuchte der Hersteller dann, im Nachhinein individuelle Patientendaten aus dieser Studie zu Lanadelumab mit Daten aus Studien zur Vergleichstherapie zu vergleichen. Die Studien zur Vergleichstherapie hatte der Hersteller ebenfalls selbst durchgeführt.
Die Zusammenfassung der Studien war jedoch für die Nutzenbewertung nicht geeignet. Denn die Betrachtung der Studien zeigte, dass zwei gänzlich unterschiedliche Populationen vergleichen werden sollten. Diese Unterschiede waren so groß, dass sie sich auch mit statistischen Verfahren nicht sinnvoll ausgleichen ließen. Das heißt: Im Grunde wurden in dem vom Hersteller vorgelegten Vergleich Äpfel mit Birnen verglichen. Und dennoch zog der Hersteller diese Auswertungen heran, um daraus einen Zusatznutzen für Lanadelumab zu postulieren.
Versorgungsnah erhobene Daten: Lücke zwischen Theorie und Praxis
Die vier aufgeführten Beispiele zeigen ein ganz ähnliches Muster: Oft fehlen entscheidende Informationen in den herangezogenen Datensätzen, und die zu vergleichenden Patientengruppen unterscheiden sich teilweise gravierend. Eine sachgerechte Nutzenbewertung ist mit solchen Datensätzen kaum möglich. Zwar identifizierten die Hersteller diese Punkte unter Verweis auf den Rapid Report des IQWiG teilweise auch, die notwendigen Konsequenzen zogen sie aber nicht.
„Zwischen den international anerkannten Methoden, die wir in unserem Rapid Report beschrieben haben, und der Praxis, die wir in Dossiers sehen, klafft noch eine große Lücke. Wir brauchen hier dringend mehr Ernsthaftigkeit bei der Analyse versorgungsnaher Daten, sonst verfehlen wir das wichtige Ziel, diese wertvollen Daten auch nutzen zu können“, beschreibt IQWiG-Leiter Jürgen Windeler die Erfahrungen des Instituts im Umgang mit versorgungsnahen Daten.