Das IQWiG hat am Beispiel der Depression erprobt, ob die Methode des Analytic Hierarchy Process (AHP) prinzipiell geeignet ist, um herauszufinden, welche Präferenzen Patienten bei Therapiezielen haben. Wie das Pilotprojekt zeigt, ist das der Fall. In künftige Bewertungen könnte also ein AHP einbezogen werden, um endpunktspezifische, d. h. auf einzelne Therapieziele bezogene Ergebnisse zu aggregieren.
Endpunktspezifische Ergebnisse zu Gesamtwert zusammenfassen
Bei Kosten-Nutzen-Bewertungen (KNB) arbeitet das IQWiG mit einer speziellen Methode, dem Effizienzgrenzen-Konzept Effizienzgrenzen kann man entweder für einen aggregierten Endpunkt oder für ein einzelnes Zielkriterium wie etwa Mortalität (Sterblichkeit), Morbidität (Symptome und Beschwerden) oder Lebensqualität zeichnen. Um diese Effizienzgrenzen für verschiedene patientenrelevante Endpunkte zu einer Gesamtbewertung zusammenzufassen, sie also zu aggregieren, müssen die Einzelergebnisse gewichtet werden. Dafür kann man beispielsweise die Präferenzen von Patienten und Patientinnen heranziehen.
Patienten werden bislang nur unzureichend einbezogen
Das IQWiG hat deshalb in zwei Pilotprojekten die beiden international am weitesten verbreiteten Methoden erprobt, mit denen sich Patientenpräferenzen ermitteln lassen: zum einen den AHP, zum anderen die Conjoint Analysis (CA). Für den AHP liegt der Bericht nun vor.
Patientinnen und Patienten sind gewissermaßen die „Endverbraucher“ von medizinischen Maßnahmen. Deshalb werden sie international in die Bewertungen von Nutzen und Kosten einbezogen. Allerdings geschieht dies bislang nicht systematisch, transparent und nachvollziehbar. Quantitative Ansätze wie der AHP werden zudem nicht regelhaft eingesetzt.
Befragung arbeitet mit paarweisen Vergleichen
Anwendungsbeispiel für das Pilotprojekt zum AHP war die medikamentöse Behandlung der Depression. Antidepressiva sind auch Gegenstand der ersten KNB des IQWiG . Die strukturierten Interviews fanden jeweils in Gruppen statt, getrennt nach Patienten und Ärzten. In den Fragen ging es um verschiedene Dimensionen von Nutzen und Schaden: Wirksamkeit (Ansprechen, Remission, Vermeiden von Rückfall), Vermeiden von Nebenwirkungen sowie Auswirkungen auf die Lebensqualität. Ein Ansprechen (Response) gilt als erreicht, wenn die Ausprägung der Symptome, gemessen an einer depressionsspezifischen Skala, im Punktwert halbiert werden kann. Remission setzt dagegen Symptomfreiheit voraus.
Bei der Befragung sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entscheiden, welches von jeweils zwei Kriterien ihnen wichtiger erscheint – ob es für sie beispielsweise wichtiger ist, dass ein Medikament entweder Ängste oder Schmerzen verringert. Und die Befragten konnten mithilfe einer von -9 bis +9 reichenden Skala festlegen, wie viel wichtiger ihnen ein Kriterium ist. Aus den Einzelergebnissen aller paarweisen Vergleiche errechnete das IQWiG dann für jedes Zielkriterium das Gewicht.
Remission ist Ärzten wichtiger als Patienten
Dabei zeigte sich, dass an Depression erkrankte Patienten zum Teil deutlich andere Präferenzen haben als behandelnde Ärzte. Zwar identifizierten beide Gruppen von insgesamt 11 Zielkriterien dieselben sechs als die bedeutsamsten. Allerdings wurden die Gewichte zwischen diesen sechs sehr unterschiedlich verteilt. So gewichteten Patientinnen und Patienten das Ansprechen auf die Therapie am höchsten, wohingegen den Ärzten die Remission, also das Verschwinden depressionsbedingter Symptome, am wichtigsten war. Die Remission stand bei den Patienten erst an sechster Stelle, umgekehrt das Ansprechen bei den Ärzten an fünfter Stelle.
Gruppendiskussion erhellt Hintergründe und Motive
Was die Befragten bewogen hatte, so und nicht anders zu gewichten, war Gegenstand der Gruppendiskussion, die sich an jede Fragerunde eines Paarvergleichs anschloss. Dank dieser Zusatzinformation lassen sich auch einige Unterschiede erklären: Demnach gewichteten Patienten das Ansprechen – im Unterschied zu den Ärzten – am höchsten, weil sie den Zustand einer akuten Depression als derart unerträglich empfinden, dass sie ein „erstes Herausreißen“ aus diesem Zustand als überragendes Therapieziel ansehen.
Das heißt nicht, dass sie keine Remission erreichen wollen; allerdings sehen sie diese als schwer – wenn überhaupt – erreichbares Fernziel. „Ich würde lieber den Rest meines Lebens mit einer milden Depression leben als in einer akuten mittelschweren bis schweren Episode keine Hoffnung haben, dass es ein Medikament gibt, dasmir in der akuten Phase Besserung zu bringen vermag“, brachte es ein Patient auf den Punkt.
AHP ist für Patienten handhabbar
Nach diesem Pilotprojekt mit einer kleinen Zahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern beurteilt das IQWiG den AHP als grundsätzlich geeignete und handhabbare Methode. „Patienten kommen damit zurecht und das Verfahren liefert brauchbare Ergebnisse. Man könnte AHP also einsetzen, wenn es darum geht, Endpunkte zu gewichten. Für Nutzenbewertungen gilt das im Prinzip ebenso wie für Kosten-Nutzen-Bewertungen“, sagt Andreas Gerber-Grote, Leiter des Ressorts Gesundheitsökonomie im IQWiG.
Methodische Herausforderungen des AHP
Für den praktischen Einsatz sind jedoch noch eine Reihe von Herausforderungen zu meistern: So muss die Befragung so strukturiert sein, dass sich Zielkriterien nicht überlappen, also beispielsweise „Angst“ nicht mehrfach abgefragt wird. Denn dann würde dieser Aspekt zwangsläufig zu hoch gewichtet.
Vorab müsste zudem geklärt werden, wer befragt werden soll: Patienten, Ärzte oder – wie in Großbritannien – eine Stichprobe der Allgemeinbevölkerung? In jedem Fall müssten die Befragten repräsentativ ausgewählt werden. Und man müsste festlegen, welcher Grad von Genauigkeit erforderlich ist, d. h. wie belastbar die Ergebnisse sein müssen. Denn je höher die Ansprüche hier sind, desto mehr Menschen muss man befragen, umso größer wird der Aufwand für den AHP insgesamt.
Zum Ablauf der Berichtserstellung
Das IQWiG hat die in Kooperation mit externen Sachverständigen erarbeiteten Ergebnisse in Form eines Arbeitspapiers publiziert. Arbeitspapiere entstehen in Eigenverantwortung des Instituts, ohne dass es hierzu eines Auftrags durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) oder des Bundesgesundheitsministeriums bedarf. Sie haben entweder zum Ziel, zu versorgungsrelevanten Entwicklungen im Gesundheitswesen Auskunft zu erteilen, oder sie entstehen – wie im vorliegenden Fall – im Kontext der Entwicklung der Institutsmethoden. Das Dokument wurde am 8. Mai 2013 an den G-BA versandt.