In Deutschland nimmt die Zahl an älteren und alten Menschen weiter zu. Waren im Jahr 1950 noch 14 % aller Einwohner über 60 Jahre alt, stieg deren Anteil auf 24 % im Jahr 2008 an. Bis 2040 sollen es schätzungsweise 37 % sein. Gleichzeitig erhöht sich die Lebenserwartung – bei der Geburt ist aktuell je nach Geschlecht von 77 bis 83 Jahren auszugehen. „Der Preis eines langen Lebens sind mehr Demenzen“, sagt Prof. Dr. Karel Kostev, wissenschaftlicher Forschungsleiter bei IQVIA. Die Prävalenz beträgt bei Menschen zwischen 80 und 85 Jahren 10 bis 13% und steigt bei den 90- bis 95-Jährigen auf 24 bis 31 % an. Kostev: „Allerdings gibt es derzeit nur supportive, symptomatische Therapien.“ Speziell bei Morbus Alzheimer sei der Nutzen mancher Pharmaka umstritten.
Alter Wirkstoff, neue Wirkung
Um diese Versorgungslücke zu schließen, verfolgte Kostev einen anderen Ansatz: „Mit Real World Daten konnten wir abschätzen, welches Potenzial unterschiedliche etablierte Wirkstoffe haben, um die Entstehung von Demenzen zu verzögern oder zu reduzieren.“ Deshalb hat IQVIA in den letzten Jahren 30 Assoziationsstudien mit unterschiedlichen, häufig verordneten Wirkstoffgruppen durchgeführt. Basis bildete die retrospektive Disease Analyzer-Datenbank von IQVIA.[1] Ein Überblick:
Behandlung des Bluthochdrucks: Antihypertensiva
Arterielle Hypertonie (Bluthochdruck) gehört zu den häufigsten Erkrankungen älterer Menschen; zahlreiche Pharmaka stehen zur Verfügung. Ein Vergleich von Hypertonie-Patienten mit und ohne Demenz mit über 12.000 Patienten pro Gruppe zeitigte wichtige Ergebnisse hinsichtlich der Therapie. Je nach Modell zeigten sich bei unterschiedlichen Arzneimittelklassen von Antihypertensiva Assoziationen zwischen der Pharmakotherapie und dem Demenzrisiko[2].
Bei Zugrundelegung von mindestens einer einmaligen Verordnung des Antihypertensivums zeigten sich beim Vergleich von Patienten mit und ohne Demenz Effekte durch die Pharmakotherapie dahingehend, dass ACE-Hemmer und Angiotensin II-Antagonisten (Sartane) einen negativen Einfluss auf die Entwicklung von Demenz hatten. D.h., mit den Präparaten dieser Wirkstoffgruppen behandelte Patienten entwickeln ungefähr zu 15 bis 20 % seltener eine Demenz (Abbildung 1 zum Herunterladen).
Bei einer Therapiedauer von drei und mehr Jahren im Vergleich mit weniger als drei Jahren bestätigt sich dies für beide Wirkstoffgruppen; hinzu kommen noch Calciumantagonisten, die das Demenzrisiko um rund 10 % verringern. Beträgt die Therapiedauer fünf Jahre oder mehr, so zeigt sich auch bei Betablockern der das Demenzrisiko reduzierende Effekt. Bei Sartanen verstärkt sich der Effekt noch. Diese sämtlich statistisch signifikanten Befunde zeigen beispielhaft, wie zumeist ältere Präparate möglicherweise einen Einfluss auf die Minderung von Demenz haben könnten. Da antihypertensive Wirkstoffe bei älteren Patienten in der Regel langfristig verordnet werden, käme diesen Ergebnissen, sollten sie in weiteren Studien bestätigt werden, erhebliche Bedeutung zu. Daher sei in zukünftigen Untersuchungen zu prüfen, ob etwa bestimmte Wirkstoffe oder Präparate diesbezüglich eine besondere Rolle spielten, so Kostev.
Antidepressiva: Johanniskraut hat mögliche Potenziale
Bei Antidepressiva gibt es eine Vielzahl von Wirkstoffen und Wirkungen, da die Präparate bei verschiedenen Krankheitsbildern eingesetzt werden[3]. Um die Vergleichbarkeit der Analysen zwischen Patienten mit und ohne Demenz zu gewährleisten, wurde ein Matching-Verfahren angewandt, das die Untersuchungs- und Kontrollgruppe nach relevanten Kriterien justierte[4]. Schließlich verblieben über 62.000 Patienten in jeder Gruppe.
Auf den ersten Blick schienen bestimmte Substanzen der Arzneimittelklassen SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) und SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) mit einem erhöhten Demenzrisiko einherzugehen, während trizyklische Antidepressiva mit einem leicht reduzierten Demenzrisiko assoziiert waren und Johanniskraut den stärksten protektiven Effekt zeigte. Durch die Berücksichtigung der Therapiedauer veränderte sich das Bild allerdings, wie das Beispiel Escitalopram zeigt. Bei einer mindestens zweijährigen Anwendung[5] reduziert sich das Demenzrisiko um über 30 %. Noch deutlichere Effekte zeigte bei mindestens zweijähriger Anwendung Johanniskraut, verglichen mit einer kürzeren Einnahmedauer. Hier reduzierte sich das Demenzrisiko um fast das Zweifache. Auch diese Ergebnisse sind statistisch signifikant. Aufgrund dieser Resultate fordert Kostev: „Mit Hypericum perforatum sollte man klinische Studien starten, um den Effekt weiter zu untersuchen.“
Antidiabetika: Risikofaktor Hypoglykämie
Bei Diabetes mellitus lieferte eine Kohorte mit fast 8.300 Demenzpatienten und ebenso vielen Patienten in der Kontrollgruppe Einblicke. Alle Datensätze wurden hinsichtlich des HbA1c-Werts, der Diabetes-Dauer, der Co-Diagnosen und der Co-Therapien adjustiert.
Die Einnahme von oralen Antidiabetika wie Glitazonen und Metformin als Monotherapie war den Analysen zufolge mit einem niedrigeren Demenzrisiko assoziiert. Bei Insulinen, speziell bei Basal- und Bolusinsulinen, fanden sich Hinweise auf gegenteilige Effekte. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass durch Insuline mehr Hypoglykämien auftreten, die bekanntlich mit Demenz in Verbindung stehen. Auch diese Ergebnisse sind statistisch signifikant[6].
Methodische Einschränkungen
Wie bei jeder epidemiologischen Studie werden Assoziationen, aber keine Kausalitäten, gezeigt. In den Datensätzen selbst fehlen Angaben zur Schwere einer Demenz, zum sozioökonomischen Status und zur Compliance bei Pharmakotherapien. Hypoglykämien sind nicht immer ausreichend dokumentiert, und Diagnosen basierten allein auf ICD-Codes der Arztpraxis. Daten aus Krankenhäusern standen nicht zur Verfügung.
Potenziale für Patienten und Hersteller
„Die Behandlung mit bestimmten Antihypertensiva oder Antidepressiva kann zwar kein demenzfreies Leben garantieren, aber das Risiko möglicherweise verringern“, resümiert Kostev. Beim gegenwärtigen Kenntnisstand sei es wünschenswert, einzelne Wirkstoffe bzw. sogar Präparate sowie Kombinationen zu erforschen, um neue Wege der Demenzprävention auszuloten. „Dadurch könnten Hersteller auch das Portfolio ihrer Wirkstoffe ausweiten und den Patienten hoffentlich geholfen werden“, so der Experte.
[1] Disease Analyzer ist eine Datenbank von IQVIA, die anonymisierte Therapie- und Behandlungsverläufe zeigt. Diese trägt Informationen zu Arzneimittelverordnungen und Diagnosen sowie grundlegende medizinische und demografische Daten zusammen, die direkt und in anonymisierter Form von den Computersystemen in allgemeinmedizinischen und fachärztlichen Praxen geliefert werden.
[2] Konfidenzintervall von 95 %, Irrtumswahrscheinlichkeit 0,1 % (p-Wert: < 0,001)
[3] Neben Depressionen werden Antidepressiva z.B. auch bei Angststörungen, psychosomatischen Beschwerden oder Suchterkrankungen eingesetzt.
[4] Kriterien waren z.B. Alter, Geschlecht, Versicherungsstatus, Indexjahr, Komorbiditäten und Praxis (Sicherstellung vergleichbarer Therapieansätze).
[5] Die Therapiedauer lag nach Median bei 2 Jahren, deshalb erfolgt die Abgrenzung bei diesem Wert.
[6] Genaue statistische Kennzahlen können zu allen dargestellten Ergebnissen bei Interesse angefragt werden.
Quelle (IQVIA)