COVID-19: Veränderungen im Gesundheitsmarkt
Zu welchen Veränderungen COVID-19 im deutschen und österreichischen Gesundheitsmarkt geführt hat, zeichnete zum Auftakt der Veranstaltung Dr. Frank Wartenberg, President Central Europe von IQVIA, nach. Einige Aspekte aus dem Vortrag im Überblick:
Die monatliche Umsatz- und Absatzentwicklung des Pharmamarktes im Vergleich der Monate Januar und Juli 2020 stellt sich für beide Länder ähnlich dar: Im verschreibungspflichtigen Segment (Rx) liegt das Niveau nach Wert und Menge im Juli leicht über dem des Januars, wobei im März ein leichter Anstieg (Bevorratung vor Lockdown) zu verzeichnen war. Im kumulierten Zeitraum der ersten sieben Monate ergibt sich für Deutschland ein Rx-Wertzuwachs von 3 % bei einem Mengenrückgang von etwas unter 2 % (Österreich: +7 %/Stagnation bei roter Null).
Im rezeptfreien Bereich bewegt sich das Niveau im Juli hingegen deutlich niedriger als im Januar, und auch die kumulierte Betrachtung weist Rückgänge um je 14 % nach Wert und Menge auf (Österreich: -11/-13 %).
Im Krankenhaus-Sektor zeigt sich mit knapp +12 % ein deutliches Wertwachstum bei einem Mengenrückgang von 4 % (Österreich: +3 %/-4 %).
Im Vergleich mehrerer europäischer Länder seien Österreich und Deutschland bis jetzt gut durch die Krise gekommen, so Wartenberg. Die Zahl der COVID-Fälle pro 100.000 Einwohner liegt in Österreich und in Deutschland deutlich niedriger als in anderen größeren EU-Ländern. Das Umsatzwachstum mit verschreibungspflichtigen Produkten zeigt im Juni 2020 gegenüber Vorjahr eine Aufholbewegung, der rezeptfreie Bereich stellt sich hingegen rückläufig dar. Hier liegen Deutschland und Österreich im Mittelfeld der größeren europäischen Länder. Während der Hochphase der Pandemie haben etwa 50 % weniger Patienten in Deutschland die Praxen aufgesucht. Entsprechend haben vergleichsweise viele Praxen Videosprechstunden angeboten (Abb. 1 zum Herunterladen).
Marktgeschehen, Betroffenheit, Reaktion der Industrie
Im April und Mai d.J., in der Zeit des Lockdowns, zeigt sich die Entwicklung des verschreibungspflichtigen Arzneimittelmarktes in mehreren europäischen Ländern im Großen und Ganzen vergleichbar (Abb. 2 zum Herunterladen). Im März erfolgten Bevorratungen, im April und Mai ergaben sich Rückgänge. Ein interessanter Unterschied: in Deutschland fiel das Bevorratungshoch am schwächsten aus, der Rückgang jedoch am stärksten. Eine mögliche Erklärung, so Wartenberg, liege vielleicht in kulturspezifischen Gründen wie z.B. einer geringeren Akzeptanz des Lockdowns in anderen Ländern. Ebenfalls bemerkenswert: im März zeigt sich eine höhere Apothekenbesuchsfrequenz mit mehr Käufen, bei einem negativen Preiseffekt, der sich laut Wartenberg durch vermehrte OTC-Käufe (z.B. Vitamine, Schmerzmittel) erklärt. In der Folge habe sich die wöchentliche Besuchsfrequenz in der Apotheke verringert, inzwischen deute sich eine Normalisierung an. Ob sich diese fortsetze, bleibe abzuwarten, wenn die Zahl der Infektionen, wie zurzeit, wieder ansteige.
Stark betroffen im Umgang mit der Pandemie seien vor allem Krankenhäuser gewesen, führte Wartenberg aus und nannte als Beispiel die Freihaltung bzw. Schaffung von Intensivbetten. Starke Veränderungen gab es auch bei Verbrauchsmaterialien wie z.B. Spezialhandschuhen mit einem Anstieg um 112 % im kumulierten Zeitraum von Januar bis Juli 2020, wie auch generell Materialien zur Desinfektion mehr nachgefragt wurden. Stark rückläufig waren hingegen z.B. Hilfsmittel für Operationen (-98 %). Bei Masken verdoppelte sich die Abnahme, wie auch der Preis pro Maske. Wahlfreie Operationen verzeichneten nach einer IQVIA-Umfrage[1] in Deutschland Rückgänge zwischen 70 und 100 %.
Patienten, vor allem chronisch Kranke, sahen sich nach einer Befragung des IQVIA Contract Sales and Medical Solutions-Teams, das diese betreut, u.a. durch die Erfahrung von Selbstisolation, Ängsten, Unsicherheit und Sorge hinsichtlich der Verarbeitung öffentlicher Informationen belastet.
Bei Arztbesuchen zeigten sich in den Lockdown-Wochen ebenfalls Einbrüche, Stand Ende Juli 2020 lagen diese noch immer unter Vorjahr. Entsprechend sei, so Wartenberg, nicht überraschend, dass mehr Praxen Videosprechstunden angeboten hätten. Hier ist ein Anstieg von unter 1 % auf 14 % im April festzustellen, seit Mai zeigt sich wieder ein Rückgang. Ob es sich hier laut Wartenberg um ein kurzfristiges Phänomen oder einen tatsächlichen Trend handelt, werde sich zeigen, da sich die Inanspruchnahme des telemedizinischen Service noch immer auf einem höheren Niveau als je zuvor befinde.
Erste Ergebnisse aus einer gegenwärtig laufenden Befragung bei Haus- und Fachärzten[2] zu Einflüssen durch COVID-19 auf deren gegenwärtige und zukünftige Arbeit weisen auf die Relevanz der Digitalisierung hin. So zeigen sich z.B. gut zwei Drittel der Befragten bereit, Health Apps zu verschreiben; bei digitalen Entwicklungen mit dem größten Einfluss auf die ärztliche Arbeit steht das elektronische Rezept ganz oben. Wartenberg kündigte in diesem Zusammenhang einen IQVIA-Spezialreport mit den gesamten Ergebnissen der Befragung für Oktober d.J. an.
Industrieseitig habe man in der Lockdown-Phase mehrheitlich Außendienstbesuche in Praxen und Kliniken heruntergefahren. Im April seien Face-to-Face-Kontakte praktisch auf null reduziert gewesen, im Zuge dessen hätten sich jedoch Remote-Kontakte unterschiedlicher Art verstärkt. Auch hier sei das Bild in Österreich vergleichbar. Im Juni und Juli setzte wieder eine Normalisierung ein. Eine derzeit offene Frage sei, in welche Richtung sich die Aktivitäten entwickelten, da die Nutzung auch von Remote-Kanälen nun eingeübt und auch erfolgreich sei. So habe IQVIA Kunden mit einem entsprechenden Tool zur Multikanalisierung (technologische Plattform) unterstützt, wobei per Remote sogar mehr Kontakte realisiert werden konnten. Voraussetzung für ein Gelingen seien entsprechende Schulungen der Mitarbeiter wie auch die Zustimmung durch die Ärzte.
Umsetzung von Ergebnissen und Erkenntnissen
In seinem Resümee skizzierte Frank Wartenberg abschließend zwei Schritte hinsichtlich des weiteren Umgangs mit der aktuellen und zukünftigen Situation. Erstens gehe es darum, Erfahrungen auszuwerten und Trends zu Veränderungen zu erkennen, etwa hinsichtlich Patienten- oder Shopper-Verhalten. Relevante Fragen seien zum Beispiel, wie sich hierfür Daten aus der realen Versorgung nutzen ließen und wie effektiv einzelne Kommunikationskanäle seien bzw. wie man die Effektivität steigern könne, um zweitens die digitale Transformation bestmöglich zu nutzen. Das betreffe bspw. die Mischung aus Hybrid- und Face-to-Face, die Gestaltung eines neuen erfolgreichen digitalen Engagements, oder auch die Nutzung von Künstlicher Intelligenz, um Verhalten prädiktiv vorherzusagen und zu entscheiden, ob man bestimmte Projekte online oder offline angehe. Auch die Zusammenarbeit mit relevanten Stakeholdern sowie die Bildung von Partnerschaften sei wichtig, um eigene Lücken zu schließen und neue Lösungen zu entwickeln, vor dem Hintergrund der jeweiligen Portfoliostrategie und Aktivitäten bei Forschung und Entwicklung, aber auch in Anbetracht epidemiologischer Gegebenheiten; allesamt Faktoren, die auch die Gestaltung des „Go-to-Market“ mitbestimmten. Um der heutigen Komplexität, die u.a. durch unterschiedliche Ansprüche von Stakeholdern gekennzeichnet sei, gerecht zu werden, komme es darauf an, Silogrenzen zu überwinden und Erkenntnisse zu verbinden.
Weitere Themen
Die übrigen Beiträge in der Jahrestagungs-Woche beschäftigten sich u.a. mit Implikationen aus der durch COVID-19 veränderten Lage im Blick auf neue Kommerzialisierungsmodelle, Marktdynamiken im internationalen Vergleich, Multikanalität im Kundenmanagement, Nutzung von Real World-Daten aus und in verschiedenen Bereichen, Anwendung von Methoden der Künstlichen Intelligenz zur Verbesserung der Versorgung, Neuigkeiten zu Health Technology Assessments und Veränderungen im Bereich Consumer Health sowie Digitalisierung, auch, aber nicht nur bei Launches. Die Verleihung des IQVIA Start-up Awards an den diesjährigen Gewinner, die Captomed GmbH mit Sitz in Zimmern, bildete den Abschluss der Tagung.
[1] MedTech Puls Survey, USA und EU5
2 N = 66