COVID-19-Auswirkungen
Vor dem Hintergrund der durch COVID-19 angestoßenen Veränderungen im Gesundheitsmarkt erläuterte Dr. Frank Wartenberg, President Central Europe von IQVIA, wie den daraus erwachsenden neuen Herausforderungen begegnet werden kann. Ein Beispiel von durch die Pandemie erzeugten Veränderungen sei etwa ein erwartbar höherer Kostendruck, der entsprechende Sparmaßnahmen befördere. Je nach Land stelle sich die Lage unterschiedlich dar. Vielerorts seien weniger Patienten als vor der Pandemie behandelt worden und weltweit sei ein Rückstau an Behandlungen entstanden. Ein allseits beobachtbarer Trend sei die verstärkte Nutzung von Kanälen der digitalen Kommunikation und für den Einkauf in allen Lebensbereichen.
Unsicherheiten und Chancen - Markt, Patientenversorgung, Interaktionsform und Digitalisierung
Der Markt werde von zwei gegenläufigen Effekten geprägt: einerseits wirtschaftliche Erholung, wodurch auch wieder Geld ins System komme und gleichzeitig Freiräume für die Patientenversorgung geschaffen würden. Gleichzeitig bestehe andererseits die Herausforderung, den Behandlungsrückstau abzuarbeiten. In Bezug auf die Interaktion kämen reale Kontakte wieder zum Tragen; disruptive Innovationen, Daten und Technologien kämen an einen Wendepunkt.
Zur Pharmamarktentwicklung: der Markt verschreibungspflichtiger Arzneimittel wachse in Deutschland nach wie vor, wenn auch etwas langsamer. Dieses Wachstum komme vor allem aus dem „Specialty“-Bereich, also der fachärztlichen Versorgung schwerer Erkrankungen. Der Consumer Health-Markt sei hingegen im letzten Jahr rückläufig gewesen, wenn auch nicht in allen Kategorien. Vor allem der OTC-Arzneimittelbereich sei betroffen, wesentlich bedingt durch eine schwache Erkältungssaison. Ferner stelle sich das Segment der Pflege- und Sonnenschutzprodukte rückläufig dar, während Tests, Immunstimulanzien, Vitamine und Mineralstoffe eine Sonderkonjunktur erlebt hätten. In Österreich falle die Marktentwicklung ähnlich aus.
Um die Bedeutung des sogenannten „Patient Backlogs“ zu ermitteln, habe IQVIA u.a. eine Sonderstudie in der Onkologie in den EU4-Ländern + UK aufgelegt. Danach zeigten sich unmittelbare Auswirkungen von COVID-19 mit zweistelligen Rückgängen in allen Bereichen der Krebsbehandlung, einschließlich Chirurgie, Diagnose und Therapie.
Die Pandemieauswirkungen beträfen weiterhin auch andere Indikationen und Bereiche. So sei die Anzahl der Neueinstellungen auf Arzneimittel in den verschiedenen Monaten zwischen 10 % und 40 % zurückgegangen. Im Blick auf die Patienten seien auch Arztbesuche und Apothekenbesuche stark rückläufig, was auch für das laufende Jahr noch gelte. Gleichzeitig nehme Telemedizin zu und die Zahl der persönlichen Interaktionen ab (Abb. 1 zum Herunterladen).
Patienten wechselten von der stationären Apotheke zu Online-Apotheken; Ärzte nutzten digitale Kontakte und empfingen weniger Außendienstmitarbeiter in den Praxen. IQVIA gehe für die Zukunft von hybriden Kontakten mit dem Pharma-Außendienst aus, auch wenn Einschränkungen nicht mehr bestünden. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz und weiteren Initiativen gebe es im deutschen Gesundheitswesen Bestrebungen, die Digitalisierung voranzubringen. Als Beispiele benannte Wartenberg u.a. die erstattungsfähigen digitalen Gesundheitsanwendungen, die elektronische Patientenakte oder auch das E-Rezept im nächsten Jahr. Deutschland sei inzwischen mit 20 zugelassenen digitalen Therapien, vornehmlich für die mentale Gesundheit und Verhaltenstherapien, bereits der größte Markt für digitale Therapien, auch wenn sich die Verschreibungen, absolut gesehen, noch auf einem niedrigen Niveau befänden.
„Connected Intelligence“ im Gesundheitsmarkt
Die Konsequenzen aus diesen Entwicklungen seien mehr Möglichkeiten als je zuvor, eine explosionsartige Zunahme von Datenquellen, Erkenntnisse aus einer Vielzahl von immer wichtigeren Interessengruppen, sowie eine Fülle von Technologien und Dienstleistern, die ihre Kompetenzen ausbauen könnten (Abb. 2 zum Herunterladen). Die Gefahr sei dabei, dass Unternehmen die „richtigen“ Elemente übersähen. IQVIA sei in der Lage, die Vielzahl von Daten, Erkenntnissen, Technologien und Dienstleistungen zu sichten und sich genau auf die Ressourcen und Fähigkeiten zu konzentrieren, die Kunden für ihre unmittelbaren und zukünftigen Bedürfnisse benötigten. IQVIA nenne dies „Connected Intelligence“.
Weiter führte Wartenberg dazu aus: IQVIA fühle sich einzigartig positioniert, um die richtigen Verbindungen für seine Kunden herzustellen, da man über ein umfassendes Spektrum an Fähigkeiten, unvergleichlichen Daten, fortschrittlichen Analysen und intelligenten Technologien verfüge, um mit dem erforderlichen Fachwissen alle Teile richtig miteinander zu verbinden und sicherzustellen, dass Kunden das optimale Ergebnis erhielten. Das Sachverständnis betreffe nicht nur das Gesundheitswesen, sondern umfasse auch Big Data Analytik, einschließlich Künstlicher Intelligenz oder Maschinellem Lernen, Informationsmanagement, Technologieintegration, globales und lokales Markt-Know-how sowie therapeutisches und medizinisch-wissenschaftliches Fachwissen. Unter den über 70.000 Mitarbeitern in über 100 Ländern weltweit befänden sich Experten aus allen genannten Bereichen, die entsprechend mit Fach- und Länderexpertise ausgestattet seien. Dies stelle sicher, dass Kunden die richtige Mischung aus Daten, Erkenntnissen, Dienstleistungen und Technologien nutzen könnten. IQVIA verfüge über eine der weltweit größten kuratierten Datenquellen. In diesem Zusammenhang gab Wartenberg einen detaillierten Überblick, welche Verknüpfungen in verschiedener Weise möglich sind. Mit IQVIAs transformativer Technologie sorge das Unternehmen dafür, dass „die richtigen Daten für die richtigen Anwendungen“ auf entsprechenden Plattformen je nach Bedarf zugänglich seien. Damit werde für mehr Konnektivität und bessere Ergebnisse gesorgt, wobei Sicherheit und Datenschutz bei allen Prozessen gewährleistet sei.
Wartenberg benannte mehrere Bereiche für die Anwendung von Connected Intelligence und erläuterte die jeweiligen Datenverfügbarkeiten und Vorgehensweisen. Teilweise wurden diese auch in Spezialforen vertieft. Einige Beispiele:
- Virtuelle klinische Studien, die eine dezentrale Teilnahme ermöglichten und so für Patienten einen leichteren Zugang schafften.
- Die Orchestrierung der Aktivitäten eines Pharmaunternehmens vom Molekül bis zum Markt.
- „Advanced Analytics“ für ein besseres Identifizieren von Erkrankungen bei Patienten durch Ärzte und die Vorhersage von Krankheitsverläufen.
- Sales Effectiveness: Der Erfolg des „Go-to-Market“ in der Zeit der Pandemie erfordere eine individuellere und kanalübergreifende Kundenerfahrung. Dafür notwendige Einsichten erhalte man durch digitales Targeting, um sicherzustellen, dass Ärzte über die richtige Balance von Remote- und Face-to-Face-Kanälen eine auf sie zugeschnitten qualitativ hochwertige Ansprache erhielten.
- Launch Excellence: Der Launch Erfolg bestimme sich nach dem „unmet need“ und betreffe in neuerer Zeit vor allem Arzneien zur Behandlung seltener Erkrankungen sowie COVID-19. Zur Stärkung der Launch Excellence habe IQVIA ein Konzept entwickelt, das auf einer mittels Künstlicher Intelligenz und Maschinellem Lernen erzeugten Mustererkennung beruhe, fußend auf Real World-Daten.
In der Auftakt-Paneldiskussion zum Thema „Post-COVID-19 oder x. Welle?“ tauschten sich Experten zu regulatorischen und epidemiologischen Aspekten, dem Einfluss der Pandemie auf den Behandlungsrückstau und eine Beschleunigung der Digitalisierung aus. In der von Dr. Philipp Beinker moderierten und von Dr. Thomas Hupp (beide IQVIA) mit Fakten aus dem Markt gestützten Diskussion kamen als externe Experten Prof. Dr. Isabelle Bekeredjian-Ding vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI), Dr. Dr. Richard Ammer vom Unternehmen Medice Arzneimittel Pütter/Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI) und Dr. Harald Herholz von der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen zu Wort.
Der facettenreiche Austausch zeigte die Vielschichtigkeit der Themenaspekte auf. So wurde u.a. deutlich, dass die Zulassungsgeschwindigkeit, die bei den COVID-19-Impfstoffen enorm war, auch stark vom „medical need“ abhängt. Für die derzeit diskutierten Booster-Impfungen seien in der EU Zulassungsanträge eingereicht, die aufgrund des Umstandes, dass die Pandemie noch nicht beendet ist, mit hohem Zeitdruck bearbeitet würden. Auch neue Wege der Datenerfassung, wie z.B. eine App des PEI zur Erhebung der Verträglichkeit von COVID-19-Impfstoffen, lieferten in Kombination mit den üblichen Meldeverfahren, einen Wissensgewinn. mRNA-Impfstoffe gälten für verschiedene Indikationen und aufgrund ihrer schnelleren Produktionsfähigkeit als zukunftsträchtig
Epidemiologische Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) zur Entwicklung von Inzidenz, Hospitalisierung, Sterberate zeigen Erfolge des Impfens auf, auch wenn die derzeitige Quote von etwas mehr als 60 % vollständig Geimpfter in Deutschland noch zu niedrig ist, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Fakten aus dem Markt von IQVIA belegen Rückgänge der Arztbesuche von Patienten in 2020, mit der Konsequenz daraus resultierender Behandlungsrückstaus zum einen und weniger Neueinstellungen auf Medikationen zum anderen; auch fanden weniger Apothekenbesuche zugunsten des Onlinehandels statt. Für das laufende Jahr, so ein Ergebnis aus der Diskussion, sei wohl in Orientierung an anderen Ländern von mehr Auffrischungsimpfungen durch niedergelassene Ärzte auszugehen. Zurzeit werde die Booster-Impfung zwar nur für immunsupprimierte Personen und Hochbetagte empfohlen, letztlich sei jedoch eine Priorisierung nach Altersgruppen wahrscheinlich.
Wie die Pandemie die Digitalisierung befördert hat, zeigen IQVIA-Analysen u.a. am Beispiel von Promotion-Aktivitäten der pharmazeutischen Industrie. Danach fanden etwa wenig Face-to-Face-Kontakte statt, während telefonische und Remote-Kontakte zunahmen, wobei es deutliche Fachgruppenunterschiede gibt. Pneumologen erweisen sich hiernach z.B. als deutlich digitalaffiner als Onkologen oder Allgemeinärzte. Die Zukunft, so der Tenor der Diskussion, werde sich auch im Bereich der Ärztekontakte hybrid ausgestalten. Persönliche Kontakte seien nicht vollständig verzichtbar und der Einsatz digitaler Elemente fachgebunden. Digitale Fortbildungen würden bspw. von Ärzten bereits heute gut angenommen.
Paneldiskussion 2: Nach der Bundestagswahl - wie geht es weiter in der Gesundheitspolitik?
In der von Dr. Stefan Plantör, IQVIA, moderierten Paneldiskussion zum Abschluss des ersten Konferenztages diskutierten Experten von Krankenkassen und aus der pharmazeutischen Industrie den aktuellen Wahlausgang mit Blick auf mögliche gesundheitspolitische Perspektiven: Franz Knieps vom BKK Dachverband, Dr. Ulf Maywald von AOK PLUS – Die Gesundheitskasse für Sachsen und Thüringen und Han Steutel vom Verband der forschenden Pharmaunternehmen (vfa). Von Seiten IQVIAs ergänzte Dr. Frank Wartenberg die Runde.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen der Diskussionsteilnehmer wurden übergreifend vor allem drei Themen als für eine zukünftige Gesundheitspolitik relevant deutlich. Diese betrafen die Ausgabenentwicklung und -steuerung im Gesundheitswesen bzw. Arzneimittelbereich, den Erhalt bzw. Umbau von Versorgungsstrukturen und den Stellenwert der Digitalisierung. Einig war man sich in der Einschätzung, dass Gesundheitspolitik im Wahlkampf keine große Rolle gespielt habe und schwer abschätzbar sei, welche Partei bei derzeit noch nicht feststehender Regierungskoalition das Gesundheitsministerium übernehmen werde.
Bei der Diskussion um die Ausgabensteuerung ging es vor dem Hintergrund auch von Ausgaben für die Bekämpfung der Pandemie u.a. um die Frage der Notwendigkeit einer Kostendämpfungspolitik und darum, wie sich Innovationskraft in Deutschland stärker stimulieren lässt. Im Hinblick auf die Versorgungsstrukturen stand vor allem die Kliniklandschaft im Fokus, wobei die diskutierten Aspekte sich u.a. um die Zahl der Kliniken, ihre adäquate regionale Allokation, eine teilweise Überführung in medizinische Versorgungszentren, die Spezialisierung von Häusern sowie die ambulante und stationäre Bedarfsplanung drehten. Einigkeit bestand darin, dass die Digitalisierung weiter voranzutreiben sei; es seien viele Weichen bereits gestellt, nun komme es darauf an, die entsprechende Nacharbeit zu leisten.
Fazit aus der Diskussionsrunde: eine Reformfähigkeit Deutschlands sieht man als gegeben an. Dabei wurde angemerkt, dass hierfür auch Investitionen notwendig sein können. Letztlich, so der tendenzielle Tenor, sei die Ausgestaltung der zukünftigen Gesundheitspolitik weniger eine Frage der Parteien als vielmehr der Entschlossenheit zur Durchsetzung.