Alle Geburtskliniken sind in vier Stufen eingeteilt – vom Level-4-Haus (also einer „Geburtsklinik“ ohne jegliche kinderärztliche Versorgung vor Ort und einer frauenärztlichen Besetzung, die außerhalb der regulären Arbeitszeiten nur mit einer Assistenzärzin oder einem Assistenzarzt besetzt ist), bis zum Level-1-Haus, einem „Perinatalzentrum“, in dem Geburtsklinik und Neonatologie – d.h. eine Früh- und Neugeborenen-Intensiv- und Überwachungsstation – 24/7 vorhanden sind.
Minuten entscheiden über das Schicksal
„Eltern glauben oft, der werdenden Mutter und dem Baby könne in allen geburtshilflichen Kliniken gleich gut geholfen werden“, sagt Dr. Maike Manz. Und fügt sofort hinzu: „Dem ist aber nicht so!“ Wenn werdenden Müttern suggeriert wird, eine Geburt ohne 24/7 anwesende geburtshilfliche Fachärzt*innen und Neonatolog*innen, also Kinderärzt*innen, die speziell für die Versorgung von Neugeborenen ausgebildet sind, bringe keine Risiken mit sich, dann sei das schlicht falsch, führt Dr. Maike Manz aus. „Auch bei gesunden Müttern und bei unauffälligem Schwangerschaftsverlauf ist es immer möglich, dass unter der Geburt Komplikationen auftauchen. Eine vollkommen unauffällige Schwangerschaft kann in Sekundenschnelle zu gefährlichen Situationen für Mutter und Kind führen, etwa, wenn die Herztöne des Babys abfallen und durch gängige Manöver nicht wieder normalisiert werden können. Oder wenn eine Frau nach Geburt des Babys stark blutet, weil sich der Mutterkuchen nicht von der Gebärmutterwand ablöst. Wenn Frauen in einer Geburtsklinik des Levels 4 entbinden, müssen dort ggf. ein Narkosearzt, eine Oberärztin für Geburtsmedizin und ein Kinderarzt erst hinzugerufen werden – sie sind regelhaft nicht 24/7 im Haus! In einem Perinatalzentrum sind diese dagegen rund um die Uhr da. Da gehen wertvolle Minuten verloren, die für das Schicksal und die Gesundheit von Mutter und Kind entscheidend sind.“
Aber damit nicht genug. Oft fehle es in geburtshilflichen Einrichtungen mit einer sehr geringen Geburtenzahl (etwa weniger als 500 Geburten pro Jahr) auch an sonstiger Infrastruktur. „Wenn diese Kliniken z.B. nur wenige Blutkonserven bevorraten, kann das im Notfall viel zu wenig sein“ sagt Dr. Manz. „Dabei ist die nachgeburtliche Blutung eine der häufigsten Todesarten im Zusammenhang mit der Geburt weltweit.“
Schwierig für die werdenden Eltern sei es, dass die fehlende personelle und/oder strukturelle Infrastruktur in den Informationsmaterialien der Kliniken oft verschleiert würden. „Da stehen dann wohlklingende Sätze wie „Wir kooperieren mit der Kinderklinik in XXX“. Dass dies aber bedeutet, dass im Fall eines Notfalls die Geburtsklinik erst einen Notruf an die kooperierende Kinderklinik absetzt, diese Notfall-Personal zu Verfügung stellen, den Baby-Notarztwagen starten und möglicherweise aus der Nachbarstadt anreisen muss, schlimmstenfalls sogar bei widrigen Wetterbedingungen oder im Verkehrschaos, das steht da nirgendwo“, sagt Dr. Manz.
Dabei sind die ersten Lebensminuten für alle Kinder die Entscheidenden. „Zeit bedeutet Gehirnfunktion“, sagt auch ihr Kollege Dr. Georg Frey, Ärztlicher Leiter der Klinik für Neonatologie am Klinikum Darmstadt und damit zuständig für die Neugeborenen-Intensivmedizin. Beide leiten gemeinsam das Perinatalzentrum Südhessen am Klinikum Darmstadt, in dem in 2021 bei 2.738 Geburten 2.830 Babys zur Welt kamen.
Komplikationen bei jeder zehnten Geburt
Bei circa 10 % aller normal verlaufenden Schwangerschaften treten unter der Geburt nicht erwartete Komplikationen auf, die zur Gefährdung des Kindes führen können, weiß Dr. Georg Frey. Auch er ist seit Jahren Mitglied des Expertengremiums auf Bundesebene im Qualitätssicherungsverfahren Plan QI, der Fachkommission Geburtshilfe des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) und Mitglied in der Fachkommission Perinatalmedizin (QS PM) der Landesarbeitsgemeinschaft Qualitätssicherung Hessen (LAGQH). „In den meisten Fällen führt dies glücklicherweise nicht zu bleibenden Schäden der Neugeborenen. Trotzdem ist bei den Kindern, die eine schwere Komplikation erleiden, eine schnelle und effektive Hilfe der modernen Kinder-Intensivmedizin dafür entscheidend, ob es zu lebenslangen Behinderungen kommt. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die Qualität der Versorgung kleiner Frühgeborene stets und ständig verbessert, diese Gruppe von Patienten ist deutschlandweit sehr gut betreut.“
Allerding sei das bei reifen Neugeborenen mit einer zurückliegend unauffälligen Schwangerschaft anders, so Dr. Frey. „Die Zahl, der mit Sauerstoffmangel unter der Geburt behandelten Kinder in Südhessen, ist über die Zeit nicht wesentlich zurückgegangen und hat sogar in den letzten Jahren zugenommen. Unser Perinatalzentrum am Klinikum Darmstadt ist seit über 25 Jahren spezialisiert in der Behandlung dieser Kinder. Wir führen sehr erfolgreich eine Kühltherapie durch. Zu dieser Therapie bedarf es einer hoch spezialisierten Neugeborenen-Intensivmedizin sowie der Vollausstattung einer Klinik mit diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten unter anderem Kinder-Neurologie, Labor 24/7, Augenheilkunde und vieles mehr.“
Wie wichtig das ist, zeigt die Statistik von Dr. Frey: „Im Jahr 2021 mussten wir 22 dieser Therapien durchführen. Das ist bei weitem der Höchststand pro Jahr überhaupt und auch im laufenden Jahr zeichnet sich eine ähnlich hohe Zahl ab.“
Errungenschaften der Medizin nutzen
„Schwierig für uns Geburtshelfer*innen ist es dagegen, den Paaren keine Angst zu machen, und dennoch die realen Risiken nicht zu bagatellisieren“, so Dr. Manz. „Zweifelsohne gelingen die allermeisten Geburten ohne jegliche Komplikation – sonst wären wir Menschen schon ausgestorben“, sagt die Geburtsmedizinerin, die auch ausgebildete Hebamme ist und acht Jahre lang als solche an einem Level 4 Haus gearbeitet hat, während sie parallel Medizin studierte. „Und: Ja, es stimmt: Geburt ist keine Krankheit! Die große Kunst von Hebammen und Ärzt*innen besteht darin, in die Geburt möglichst wenig einzugreifen! Aber solange wir uns nicht als Gesellschaft darauf einigen, dass die Geburt und das Geborenwerden ein solch natürlicher Vorgang ist, dass es eben auch ok ist, wenn Mütter und Kinder sterben – denn das taten sie ohne medizinische Eingriffsmöglichkeiten leider viel zu oft in den vergangenen Jahrhunderten und tun sie heute noch in medizinisch unterversorgten Gebieten – solange sollten wir die Errungenschaften der Medizin nutzen und gleichzeitig die psychologischen Aspekte des Gebärens und die Kompetenz der Frauen zum Gebären unterstützen“, sagt Dr. Manz.
Auf die Frage, ob es auch einen Einfluss auf die Zahl der Totgeburten habe, dass es in Deutschland zu viele, darunter eben auch oft kleine, geburtenschwache Krankenhäuser mit Geburtshilfeabteilungen gebe, antwortet Prof. Dr. Pecks mit einem vorsichtigen Ja und einem Vergleich mit Portugal. Pecks leitet die Geburtshilfe am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, ist Vorstandsbeirat der Deutschen Gesellschaft für Perinatal- und Geburtsmedizin und verantwortet das Cronos-Register, für das auch die Geburtsklinik des Klinikums Darmstadt Daten von mit Corona infizierten Schwangeren eingebracht hat, um mögliche Risikofaktoren zu ermitteln. Kürzlich hat DER SPIEGEL recherchiert, warum die Zahl der Totgeburten in Deutschland steigt (Spiegel Online vom 21.7.2022). 3.420 Kinder sind in Deutschland in 2021 tot zur Welt gekommen.
Zentralisierung senkt Todesrate – Beispiel Portugal
Portugal habe die höchste Totgeburtenrate in Europa gehabt, erläutert Pecks in dem Interview. Das System dort sei dann umgestellt worden, die kleinen Häuser wurden dicht gemacht, die Versorgung wurde zentralisiert. Und plötzlich habe Portugal eine niedrigere Totgeburtenrate als Deutschland. „Der Effekt ist also nicht zu unterschätzen. Bei der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin sprechen wir uns schon lange dafür aus, dass es in Deutschland kein Geburtszentrum ohne Neonatologie mehr geben sollte“, so Pecks im SPIEGEL.
„Geburten in Level-1-Häusern haftet das Image an, nicht gut genug auf die Bedürfnisse von Müttern und werdenden Eltern eingehen zu können“ sagt auch der Direktor der Frauenklinik, PD Dr. Sven Ackermann. „Auch das ist aber nicht richtig. Konzentration geht nicht zulasten individueller Betreuung und Geborgenheit – im Gegenteil, die Personalausstattung ist an größeren Zentren immer besser. Um alle Geburten unter einem Dach anbieten zu können, braucht es die Rund- um-die-Uhr-Verfügbarkeit aller Professionen. Nur so sind die Qualitätsanforderungen zu gewährleisten und das Team kann interprofessionell Mütter so begleiten, wie es die Lage erfordert. Werdende Mütter, bei denen keine Komplikationen für Mutter und / oder Kind absehbar sind, können z.B. nur von einer Hebamme betreut im sog. Hebammengeleiteten Kreißsaal entbinden. Das gelingt in vielen Fällen. Aber wenn sich Komplikationen entwickeln, oder die Gebärende ein Schmerzmittel wünscht, ist es wichtig, dass der Geburtsprozess möglichst wenig gestört wird. Im Idealfall verbleibt die Frau im selben Gebärzimmer und wird von derselben Hebamme weiterbetreut – und wir Ärzt*innen kommen einfach mit dazu.“
Auch das Fazit von Dr. Maike Manz ist ganz klar: „Ich wünsche mir Hebammengeleitete Geburten an allen Perinatalzentren, weil das für die Frauen und werdenden Familien bedeutet: Gebären in Hausgeburtsatmosphäre - und trotzdem alle Airbags eines Perinatalzentrums Level-1 im Hintergrund zu haben. So sollte moderne Geburtshilfe aussehen. Das sind die Modelle der Zukunft!“