Wer die Gründe für die Unterschiede sucht, stößt auf verschiedene Erklärungen: Vor allem Frauen arbeiten in Berufen, in denen kein Homeoffice möglich ist; vor allem Frauen fahren mit dem öffentlichen Nahverkehr und kümmern sich zu Hause um Kinder und bringen sie in die Kitas. Es sind aber auch molekularbiologische Gründe, die eine Rolle spielen. Der genetische Code für das Protein, das bei der Infektion als Eintrittspforte eine Schlüsselrolle spielt, liegt auf dem X-Chromosom. Und davon haben Frauen zwei. Frauen haben damit mehr Eintrittspforten, dies mache es dem Virus leichter, in die Zellen einzutreten.
Warum es dann trotzdem seltener als bei Männern zu einem schweren Verlauf und zum Tod wegen Covid-19 kommt, liege an den Hormonen: Im Blut von Frauen zirkuliert Östrogen, das den Zytokinsturm hemme, eine Überreaktion des Immunsystems. Der befeuere bei Männern ungehemmt die Abwehr so sehr, dass die extreme Aktivität des Immunsystems dann die eigentliche Gefahr sei und ein lebensbedrohliches Multiorganversagen bewirken könne. Das Immunsystem der Männer gerate zwar nicht so schnell ins Wanken. Aber wenn, dann sei es nur schwer wieder zu regulieren, so lautet das Fazit.
Dr. Christine Hidas benennt einen weiteren Unterschied zwischen den Geschlechtern: Mittlerweile ist klar, dass Frauen häufiger von Long-Covid betroffen sind als Männer. „Das Immunsystem reagiert auf Sars-CoV-2 ähnlich wie bei einer rheumatischen Erkrankung, die ja auch öfter Frauen trifft. Es ist, als käme ihr Immunsystem einfach nicht zur Ruhe. Das könnte aber auch daran liegen, dass Frauen vor der Infektion schon maximal erschöpft waren, weil sie mit dem Homeschooling der Kinder die doppelte Last hatten.“
Unterschiedlich reagieren Frauen und Männer auch auf die Impfung: US-Daten zeigten, dass drei Viertel der Impf-Nebenwirkungen Frauen treffen. Komme es nach der Impfung zu einem allergischen Schock, dann fast nie bei Männern. „Es ist wie immer, Wirkstoffe werden nur an Männern getestet, und wenn man dann alle gleichbehandelt, kommen bei Frauen neue Nebenwirkungen raus,“ sagt sie.
„Frauen sollten bei Impfungen und Medikamenten eine angepasste Dosis erhalten. Dieselbe Dosis wirkt bei Frauen oft wie eine doppelte, und das geht mit erhöhten Risiken und Nebenwirkungen einher“, so Hidas weiter. Körpergröße, Muskelmasse, Hormoneinfluss, Nierenfunktion, Stoffwechsel, Immunsystem – männliche und weibliche Körper unterscheiden sich. Entsprechend unterschiedlich verwerten sie Arzneimittel.
Doch bis heute trennt die Wissenschaft bei der Entwicklung neuer Medikamente oft nicht zwischen Mann und Frau. Das fängt schon bei den Tierversuchen an, die Studien mit Menschen vorangestellt sind: In acht von zehn Fachbereichen untersuchen Forschende hauptsächlich männliche Tiere.
In den 70er Jahren hat die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA verboten, gebärfähige Frauen in Phase-I- und frühe Phase-II-Studien aufzunehmen, um Schwangere nicht einem Risiko auszusetzen. Die durch die Männer gewonnenen Erkenntnisse übertrug man einfach auf Patientinnen. Mit teils fatalen Folgen - auch noch 50 Jahre später:
So ist im Jahr 2002 eine Studie erschienen, die bewies, dass das Herzmedikament Digoxin das Leben von herzkranken Frauen nicht verlängerte, sondern sogar verkürzte. Bei den Männern war das nicht der Fall; bei ihnen wirkte das Mittel wie gewünscht. Ein weiterer bekannter Fall aus den USA: Dort bekamen alle Erwachsenen die gleiche Dosis des Schlafmittels Zolpidem. Nachdem es bei Frauen am Tag nach der Einnahme häufig zu Autounfällen kam, stellte sich heraus, dass sie verglichen mit Männern morgens noch eine deutlich höhere Dosis des Wirkstoffs im Blut hatten, weil ihr Körper das Medikament langsamer abbaute.
Unterschiedliche Nebenwirkungen folgten auch auf die Hydroxychloroquin-Therapie von Covid-19 im Off-Label-Use. Nachdem das Medikament auf den Markt gekommen war, ergaben Studien, dass es vor allem bei Frauen – sie machten 65 bis 75 Prozent der Fälle aus – gefährliche Herzrhythmusstörungen auslösen kann.
Viele Studien belegen, dass Frauen nach einem Herzinfarkt häufiger sterben als Männer. Und dass ihre Überlebenschancen steigen, wenn eine Ärztin sie behandelt. Denn auch die Symptome von Erkrankungen können geschlechtsspezifisch unterschiedlich sein. Beim stechenden Brustschmerz denken alle Ärzt*innen sofort an einen Herzinfarkt. Aber so kündigt sich der Herzinfarkt hauptsächlich bei Männern an. Frauen wird übel, sie erbrechen oder klagen über Rückenschmerzen. Mit der Folge, dass sie im Schnitt eine Stunde später in die Notaufnahme kommen und häufiger daran versterben. Die für Frauen nicht zutreffenden Symptombeschreibungen ist das, was man „Gender-Data-Gap“ nennt.
Die Symptome sind auch bei Depression unterschiedlich: Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit sind Symptome bei Frauen. Bei Männern dagegen: Aggressionen, Alkohol- und Drogensucht. Das hat in diesem Fall nicht so viel mit Sex – dem biologischen Geschlecht – sondern viel mit Sozialisierung zu tun – also mit Gender, dem sozial konstruierten Geschlecht.
Auch in der Onkologie spielt das Geschlecht eine Rolle: Bei der Behandlung von Krebs führen die stärkeren Nebenwirkungen bei Frauen dazu, dass sie häufiger aus der Behandlung aussteigen. Männer scheiden die Medikamente schneller aus als Frauen, weil diese einen höheren Fettanteil im Körper haben.
Die Bedeutung von Gendermedizin ist seit Jahrzehnten bekannt; der Stellenwert wächst aber nur langsam. „Was Gendermedizin angeht, sind wir tiefste Provinz“, so Hidas weiter, „dabei wissen wir es alle besser“. Frauen werden in medizinischen Studien nicht beachtet oder ausgeschlossen. „Aber auch die Daten beider Geschlechter zu vermischen, verzerrt das Ergebnis ungemein“, sagt Hidas. In Deutschland war das bislang, anders als zum Beispiel in Österreich, nicht vorgeschrieben. Das spiegele sich auch in den rund 4.400 wissenschaftlichen Covid-19-Studien wieder: In nur vier Prozent der Studien erfolgte die Auswertung nach Geschlechtern getrennt.
Die Studienlage wird sich wohl ändern: Anfang 2022 ist eine acht Jahre alte verabschiedete Verordnung der Europäischen Union in Kraft getreten, die den Missstand korrigieren soll. Demnach sollen künftig alle an einer klinischen Prüfung Teilnehmenden repräsentativ für die Bevölkerungsgruppen sein – das schließt Alter und Geschlecht mit ein. Die Forschung wird dadurch komplexer, komplizierter und teurer. Aber das liefert bessere Daten – für beide Geschlechter.
Auch die Pandemie hätte einmal mehr klar gezeigt, dass man nicht alle gleich behandeln dürfe, sagt Hidas. „Wir hätten die Gendermedizin also von vornherein mitdenken können. Nun haben wir weltweit lauter Daten, die nicht geschlechtergetrennt ausgewertet wurden. Die Medizin ist leider immer noch ein Altherrenverein.«
Die Einsicht, dass Frauen und Männer medizinisch anders behandelt werden sollten, ist auch in Lehre und Ausbildung von Mediziner*innen immer noch eine Revolution und alles andere als selbstverständlich. Aber das Wissen darüber wächst gerade exponentiell und viele machen sich mittlerweile für das Thema stark. Dr. Christine Hidas fordert: „Die Corona-Pandemie muss die Gendermedizin endlich voranbringen.“