Kreisbeigeordnete Stephanie Kötschau, Gleichstellungsbeauftragte im Landkreis, und die Referentin des Abends, Dr. Elke Schüller, waren sich im Fazit einig: Nur 30 bis 33 Prozent Frauenanteil in den jüngsten Bundestags- und Landtagswahlen sind „alarmierend“ und zeigen deutlichen Handlungsbedarf. Dazu zähle die Diskussion über eine Quote bzw. eine echte Parität, so Dr. Schüller. Ein weiteres Fazit: demokratische Errungenschaften sind keineswegs selbstverständlich. „Sie müssen immer wieder neu erkämpft und bewahrt werden“, so Kreisbeigeordnete Kötschau. Dr. Schüller ist Sozialwissenschaftlerin und forscht im Gender- und Frauenforschungszentrum der Hessischen Hochschulen in Frankfurt am Main.
Die Geburtsstunde des Frauenwahlrechts in Deutschland liegt im Aufruf „An das Deutsche Volk“ des Rates der Volksbeauftragten vom 12. November 1918. Hierin steht: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen."
Damit hatten, so Dr. Schüller, die Frauen, die vorher politisch völlig unmündig gewesen waren, endlich ein gleiches Staatsbürgerrecht erlangt und gleichzeitig war mit dieser großen Wahlrechtsreform auch ein wirklich ‘allgemeines’ Wahlrecht geschaffen worden.
Deutschland war damit das dritte Land weltweit, das auf nationaler Ebene ein uneingeschränktes Frauenwahlrecht eingeführt hat. Vorreiter war 1906 Finnland.
Das Wahlrecht sei jedoch keineswegs „vom Himmel gefallen“. „Es ging ein langer und steiniger Kampf voraus, der vor allem von der alten Frauenbewegung geführt wurde.“ Dieser Kampf stand im Zentrum des Vortrages.
Erste Forderungen zum Frauenwahlrecht wurden im Umfeld der deutschen Revolution von 1848 laut, und um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begann sich eine reichsweite Frauenstimmrechtsbewegung mit gleich mehreren Stimmrechtsvereinen zu organisieren, der es bald sogar gelang, sich schnell an die Spitze der internationalen Stimmrechtsbewegung zu stellen.
Von den Parteien war die SPD die erste und lange Zeit die einzige, die das Frauenstimmrecht in ihr Wahlprogramm aufnahm – wenn dies auch in der Partei nicht unumstritten war, legte Dr. Schüller dar. Mit dem Internationalen Frauentag, der bis heute am 8. März begangen wird, installierte sie bewusst einen „Propagandatag zur Agitation für das Frauenwahlrecht“.
Der Kampf um das Frauenwahlrecht führte erst dann zum Erfolg, als in der Novemberrevolution 1918 die Arbeiter- und Soldatenräte die Macht übernahmen und sofort das Frauenwahlrecht proklamierten. Die Stimmrechtlerin Marie Stritt bezeichnete dies mit gutem Grund als „Entscheidung von unermesslicher Bedeutung und Tragweite”.
Zum ersten Mal zur Wahl gehen durften die Frauen am 19. Januar 1919 bei den Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung der Weimarer Republik – und zwar als deutliche Mehrheit der Wahlbevölkerung. Dementsprechend massiv wurden sie von den Parteien mit einer speziell an sie gerichteten Wahlpropaganda umworben. Eine Reihe von an Frauen gerichtete Wahlplakate zu dieser Wahl wurden im Vortrag in Lauterbach vorgestellt und analysiert. Sogar ein historisches Tondokument aus dem Jahr 1928 hatte die Referentin mitgebracht: Die Zuhörerinnen im Landratsamt konnten eine Rede der SPD-Reichstagsabgeordneten Marie Juchacz hören.
Die Frauen machten 1919 regen Gebrauch von ihrem neu erhaltenen Wahlrecht: Ihre Wahlbeteiligung lag mit 82 Prozent genauso hoch wie diejenige der Männer. In der Nationalversammlung betrug der Frauenanteil dann allerdings nur 8,7 Prozent und auch im Laufe der Weimarer Republik blieb der Anteil der Parlamentarierinnen im Reichstag niedrig und sank bis 1933 sogar auf nur noch 3 Prozent.
Mit gutem Grund übte deshalb die Frauenbewegung deutliche Kritik an der Praxis der Listenaufstellung für die Kandidaturen und forderten immer wieder, reine Frauenlisten durchzusetzen oder gar Frauenparteien zu gründen – allerdings erfolglos.
Mit der Machtergreifung der NSDAP, die von jeher die parlamentarische Mitarbeit von Frauen abgelehnt hatte, wurde den Frauen 1933 sofort das passive Wahlrecht wieder aberkannt, und deshalb mussten sie nach nur 15 Jahren die Parlamente bereits wieder verlassen.
Auch 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts gibt es aus Sicht der Veranstalterinnen eine Unterrepräsentanz von Frauen in der Politik, insbesondere in politischen Spitzenämtern sowie in Führungspositionen der Wirtschaft und Wissenschaft. Der wissenschaftliche Vortrag von Frau Dr. Schüller wurde veranstaltet von der Kreisbeigeordneten Stephanie Kötschau (Beauftragte für Integration, Inklusion und Gleichstellung), der Volkshochschule Vogelsbergkreis, vom Bündnis für Familie Vogelsbergkreis und vom WIR-Koordinationsbüro im Vogelsbergkreis in Kooperation mit dem Büro für Staatsbürgerliche Frauenarbeit e.V.