26/02/16 – 22/05/16
Johannes von Salisbury:
Metalogicon 3,4,46–50
„Bernhard von Chartres sagte, wir seien gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt.“
Diese Metapher wurde erstmals im Jahr 1159 niedergeschrieben und bezog sich auf das literarische und philosophische Wissen der Gelehrten der Antike. Durch die Jahrhunderte wurde sie immer wieder aufgegriffen und transformiert – ein Beleg für ihre andauernde Aktualität. Isaac Newton erklärte 1676: „Wenn ich weiter gesehen habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.“ Die britische Zwei-Pfund-Münze trug bis vor Kurzem den Satz „Standing on the Shoulders of Giants“, das Album, das einen stilistischen wie personellen Richtungswechsel bei der Rockband Oasis einleitete, erhielt nahezu denselben Titel. Der Ausspruch ist heute so zeitgemäß wie vor hunderten von Jahren. Denn: Nichts kommt aus sich, sondern es gibt stets ein Davor. Alle Menschen auf Erden verbindet, dass sie eine Geschichte besitzen. Sie bestehen nicht isoliert, in einem Moment, sondern sind eingebunden in ein Netz aus biologischen, gesellschaftlichen, beruflichen, weltanschaulichen oder genetischen Bezügen. In zahllosen Sphären des Lebens folgen wir auf Vorläufer: In Familien gibt es die Vorfahren, in historischer oder beruflicher Hinsicht existiert zumeist ein Vorgänger, Forscher und Wissenschaftler berufen sich auf die Erkenntnisse von Pionieren, das Denken und die Phantasie werden beflügelt durch die Leistungen von Gründern, Erfindern, Wegbereitern, Erneuerern. Die Geschichte der Menschheit besteht aus einer Fülle von Ereignissen, Erkenntnissen und Errungenschaften, die sich akkumulieren und nachfolgenden Generationen ein Fundament bieten.
Die internationale Gruppenausstellung Auf den Schultern von Giganten widmet sich dem Thema der Vorgängerschaft in der zeitgenössischen Kunst. Dabei werden evolutionäre Entwicklungsphasen und familiäre Beziehungsmuster ebenso behandelt wie das Verhältnis zeitgenössischer Künstler zu Werken und Leistungen vorangegangener Künstler. In der Rolle als Nachfolger konkreter Menschen, künstlerischer Errungenschaften oder stilistischer Strömungen wird ihr Werk kontinuierlich mit dem ihrer Vorgänger verglichen und an ihm gemessen. Das Verlangen nach Neuem, Ungesehenem, Ungedachtem wächst mit dem Vorbehalt gegenüber allzu fremdartigen, schwer fassbaren oder schlecht kategorisierbaren Ergebnissen. Diese Spannung prägt das künstlerische Schaffen. Worauf baue ich auf? Wo liegen meine Wurzeln? Was schaffe ich aus mir heraus? Was übernehme ich? Worauf verzichte ich? Wie kann ich erneuern?
Sich wie ein Zwerg auf den Schultern eines Riesen zu fühlen, an dessen Größe man gemessen wird, die aber meist unerreichbar scheint, ist eine alltägliche Empfindung. Doch gegenüber dem großen, schweren Riesen besitzt der Zwerg einen entscheidenden Vorteil: Er ist klein und leicht, kann daher an dem Riesen empor klettern und somit von ihm profitieren. Er kann sich die Pionierleistungen der Vorgänger zunutze machen, schließlich sogar den Riesen überragen und seinen Blick auf ungesehenes Terrain richten. Doch es ist ein aufreibendes, herausforderndes Unterfangen sich an früheren Erkenntnissen, Erfahrungen und dem bestehenden Wissensschatz empor zu arbeiten. Die Schultern des Riesen müssen erst einmal erklommen werden.
Die Ausstellung Auf den Schultern von Giganten ist kein Aufruf, sich mit dem Erreichten abzufinden. Vielmehr ist ein beständiges Hinterfragen des herrschenden Konsenses unerlässlich, um blinde, dogmatische Übernahmen zu vermeiden. Aus der Auseinandersetzung mit den Wurzeln und Einflüssen bildender Künstler heraus bildet sie einen Versuch, die Errungenschaften der Vorgänger zu würdigen, indem sie gleichermaßen kritisch betrachtet wie aktiv genutzt werden – genutzt werden für etwas Neues.