„Man darf von der Digitalisierung allerdings keine Wunder erwarten, denn sie ist Hilfsmittel und kein Ersatz für fehlende Ärztinnen und Ärzte“, relativierte der Ärztekammerpräsident die von Politikern und der Industrie geschürte Vorstellung von einer `digitalen Revolution`. „Tatsächlich stecken noch in der digitalen Steinzeit fest“, mahnte Pinkowski zu Besonnenheit. „Digitalisierung muss mit Bedacht erfolgen. Dabei darf die Datensicherheit nicht auf der Strecke bleiben.“. Nach wie vor sei das Problem des Datenschutzes nicht befriedigend gelöst. Auch werde Künstliche Intelligenz (KI) nie menschliche Empathie ersetzen können. „Aber wenn die Digitalisierung dazu führt, dass Ärzte mehr Zeit für die Patienten haben, ist KI ein nützliches Instrument.“
Pinkowski gab zu bedenken, dass es auch in Hessen an entscheidenden Voraussetzungen für eine flächendeckende Nutzung digitaler Möglichkeiten fehle. Im internationalen Vergleich sei Deutschland ein Entwicklungsland. Noch immer gebe es keinen flächendeckende Zugang zu mobilem W-Lan und keine lückenlose Mobilfunkverbindung. Ralf Münzing, Leiter der EDV-Abteilung der LÄKH und für die Umsetzung der digitalen Entwicklung in der Ärztekammer verantwortlich, ergänzte, dass viele Provider nachts zur Stromersparnis die Verbindung herunterfahren würden.
Auch Prof. Thomas Friedl vom Kompetenzzentrum für Telemedizin und E-Health Hessen und der Technischen Hochschule Mittelhessen prangerte die Verbindungsprobleme an. Auch eine stabile und sichere Datenübertragung aus dem Einsatzwagen an ein Krankenhaus sei kaum möglich. Daher soll nun in einem Pilotprojekt, unabhängig von den Netzbetreibern, ermittelt werden, wo sich die Funklöcher befinden.
Friedl stellte außerdem die von der Hochschule Mittelhessen entwickelte App „Wart`s Ab“ vor, die die Wartezeit in Arztpraxen verkürzen und überdies dazu beitragen soll, dass sich die Gefahr von Ansteckung in der Praxis reduziert. Konzept ist, dass sich der Patient persönlich in der Praxis meldet, einen Barcode erhält und in der App über die voraussichtliche Dauer der Wartezeit informiert wird. Das Land Hessen will das Projekt gemeinsam mit der Techniker Krankenkasse bis 2020 fördern. „Warts-Ab“ mache es möglich, ohne Patienten bezogene Daten auszukommen. Damit sei kein Rückschluss auf den Patienten möglich, sagte Friedl, der mit der voraussichtlich im Dezember startenden App einen Standard – nicht nur – im Gesundheitswesen setzen will: „Ich trete dafür ein, dass neu auf den Markt kommende Apps von einer unabhängigen Instanz, die keine Eigeninteressen hat, geprüft werden.“ Dies bedeute zugleich, dass auch jedes Update der App geprüft werden müsse, warf Dr. Pinkowski ein.
Armin Häuser, Geschäftsführer des Kompetenzzentrums E-Health, informierte über die Einrichtung, die bis Ende 2019 mit Option auf Verlängerung um ein Jahr Ärzte, Kliniken, Gebietskörperschaften und Initiativen im Gesundheitswesen wie etwa die Landarzt-Offensive in Fragen zur Digitalisierung und Datensicherheit berät. „Wir wollen das möglich machen, was dem Patienten nutzt, hob Häuser hervor. „Die Digitalisierung kann und soll Ärzte nicht ersetzen.“
Den von dem Klinikum Kassel und dem Universitätsklinikum Frankfurt gemeinsam vorangetriebene Aufbau eines mobilen Tele-Intensivmedizin-Systems stellte Prof. Dr. med. Ralf Muellenbach, MHBA, vom Klinikum Kassel vor. Um die flächendeckende Versorgung von Intensivpatienten zu verbessern, soll die Tele-Intensivmedizin es beiden Maximalversorgern ermöglichen, sich mit kleineren Häusern sowie Rehakliniken zu vernetzen und ihre Expertise zu teilen. Über mobile Hardware (Smartphones, Tablets) sollen Ärztinnen und Ärzte der Maximalversorger künftig in Echtzeit an einer Visite teilnehmen, Laborbefunde etc. einsehen und Kollegen an anderen Häusern bei spezialisierten Fragen unterstützen. Ein solches System, betonte Muellenbach wiederholt, dürfe jedoch nicht als Ersatz für Arztpräsenz vor Ort missverstanden werden.
Da in Deutschland mehr als 600.000 Menschen von Epilepsie betroffen sind und viele von ihnen durch verspätete sowie Fehldiagnosen ihr Leben mit zahlreichen Einschränkungen führen müssen, entwickelt die Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität die Etablierung einer telemedizinischen Epilepsieversorgung. Durch telemedizinische Konsile der Epilepsiezentren Frankfurt Rhein-Main und Marburg soll v.a. die Unterversorgung des ländlichen Raums verbessert werden. Wie der Leiter des Epilepsiezentrums Frankfurt Rhein-Main, Prof. Dr. med. Felix Rosenow, MHBA, berichtete, soll zunächst die Vernetzung mit zehn Kliniken und neurologischen Praxen etabliert sowie auf die Epilepsie-Expertise für Kinder und Jugendliche ausgeweitet werden. Ziel ist es, eine rasche Therapieeinleitung mit Antiepileptika zu ermöglichen, um den Betroffenen – jenseits von Verletzungsgefahr, verminderter sozialer Teilhabe, Arbeitslosigkeit und Stigmatisierung – zu einem anfallfreien Leben zu verhelfen.
Der Gründer des Instituts der Kasseler Stottertherapie (KST) Dr. med. Alexander Wolff von Gudenberg stellte das neue Online-Projekt „FRANKINI“ vor, das sowohl vom Hessischen Gesundheitsministerium als auch der Techniker Krankenkasse gefördert wird. Damit soll die international anerkannte Kasseler Stottertherapie auf die bisher qualitativ schlecht versorgte Altersgruppe der Drei- bis Sechsjährigen ausgeweitet werden. Im „FRANKINI“-Projekt geht es darum, die Erfahrungen der KST aus verschiedenen Bereichen wie der „FranKa Therapie“ für Sechs- bis Neunjährige zusammenzubringen und ein softwareunterstütztes Therapiekonzept zu schaffen, um eine Behandlungslücke in der Intensivtherapie zu schließen. Es entsteht eine schwerpunktmäßige Online-Therapie mit Patienten-App, Trainingssoftware, Videokommunikation und automatisierter Sprachanalyse. Besonders dabei ist, dass die Eltern online zu Experten in Sachen Stottern und zu Cotherapeuten ihrer Kinder ausgebildet werden. Darüber hinaus werden im Rahmen des Projektes Logopäden zu Online- Fachtherapeuten weitergebildet – was neben einer Versorgungsverbesserung für die Patienten langfristig auch zu einer Kostenersparnis für die Krankenkassen führen soll. Seine Präsentation nahm Wolff von Gudenberg zum Anlass, auf den Weltstottertag am 22. Oktober hinzuweisen – und darauf, dass weltweit 85 Millionen Stotternde keinen Zugang zu Therapien haben.
Zum Schluss bot Prof. Dr. med. Simon Little von der Technischen Hochschule Gießen einen Über- sowie Ausblick auf die Telemedizin im Rettungsdienst. Vor dem Hintergrund der seit Jahren steigenden Einsatzzahlen, die einerseits dem medizinischen Fortschritt, andererseits den auf die Klinikenspezialisierung zurückzuführenden erhöhten Sekundärtransportzahlen geschuldet sind, soll der Rettungsdienst per Videokonsultation telenotärztlich unterstützt werden. Bei nicht lebensbedrohlich erkrankten oder verletzten Patienten soll damit der Umfang der medizinischen Maßnahmen auch ohne persönliche Anwesenheit von Notärztinnen und -ärzten möglich werden – „damit diese dort sein können, wo sie wirklich gebraucht werden“. Dafür sind in den Landkreisen Marburg-Biedenkopf, Gießen und Vogelsbergkreis sämtliche Rettungswagen mit identischen EKG-geräten ausgestattet, die alle aufgezeichnete Werte und Kurven in Echtzeit übertragen können. Durch Datenübertragung und Videotelefonie als einer Fortführung des bereits bestehenden Callback-Systems sollen fortan Notfallsanitäter durch Hintergrundärzte in ihren Entscheidungen ohne Zeitverzögerung unterstützt werden können. Little wies auch darauf hin, dass von KI in der deutschen Krankenhauslandschaft noch keine Rede sein könne: „Es geht vielmehr um die Bereitstellung effektiver digitaler Werkzeuge, die nicht zum Selbstzweck, der zu Mehrarbeit führt, werden dürfen.“
In einer kurzen Abschlussrede bedankte sich Ärztekammerpräsident Dr. Pinkowski bei allen Gästen und Referenten – und stellte fest: „Ärztinnen und Ärzte sind keine Digitalverhinderer oder –bremser. Im Gegenteil: Alle vorgestellten Projekte sind in Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten entstanden. Das ist der richtige Weg – inklusive der Berücksichtigung des Datenschutzes.“