Das Baltikum hat seit den Rezessionsjahren Ende der letzten Dekade viel bewegt. Wachstumsraten in 2015 von voraussichtlich um 2 % gegenüber dem Vorjahr machen aber auch deutlich, dass die Dynamik aus Vorkrisenzeiten mit zweistelligen Wachstumsraten vorbei ist. Die Entwicklung in Russland bremst z.T. spürbar. Der Blick auf die Zahlen unterstreicht – wie die letzte Umfrage der Deutsch-Baltischen Auslandshandelskammer unter dort ansässigen Unternehmen – die Heterogenität der drei Länder, denen der regionale Sammelbegriff oft nicht gerecht wird.
Balten bleiben überdurchschnittlich
Nach einer scharfen Rezession, die bereits 2008 Estland und Lettland erfasste und 2009 in allen drei Ländern jeweils eine Schrumpfung des realen BIPs von knapp 15 % verursachte, reagierten diese mit schmerzhaften Anpassungsprozessen. Aufgrund der komfortablen Wachstumsraten in den Folgejahren gelten die drei baltischen Staaten als Paradebeispiel dafür, dass sich Reformen als Investition in künftiges Wachstum lohnen.
Tatsächlich hat sich das Wachstum seither meist oberhalb des EU-Durchschnitts entwickelt. Das Wachstum im ersten Halbjahr 2015 war v.a. in Lettland (+2,3 % gg. Vj.) nicht schlecht, während die Dynamik in Estland und Litauen (jeweils +1,5 %) von einem negativen ersten Quartal belastet war. Für den Jahresdurchschnitt 2015 zeichnen sich Raten von 2 % bis 2,5 % gegenüber dem Vorjahr ab. Dies toppt zwar meist nicht den jeweiligen Vorjahreswert. Die für 2016 erwartete Steigerung bekräftigt aber einen Trend, der etwas oberhalb des Euroland-Wachstums bleiben dürfte. Lettland profitiert dabei von der Wiederaufnahme der Produktion in einem Stahlwerk, das in der Vergangenheit als wichtiger Arbeitgeber und Exporteur maßgeblich zum BIP-Wachstum beitrug. Eine wichtige Rolle für die Konjunkturdynamik spielt in allen drei Ländern der private Verbrauch: er sorgt bei der derzeitigen NichtInflation und rückläufiger Arbeitslosigkeit für Schwung. Impulse werden auf Mehrjahressicht auch von der Förderung im Rahmen der EU-Strukturpolitik kommen, die erst langsam anläuft und dann die Investitionstätigkeit günstig beeinflussen wird.
Im Jahresdurchschnitt 2015 dürfte die Arbeitslosenquote in Estland bei 6 ½ %, in Lettland bei rund 10 % und in Litauen bei 9 ½ % liegen. Dabei täuschen die sinkenden Werte darüber hinweg, dass sich in einzelnen Branchen bereits ein Fachkräftemangel bemerkbar macht. Durch Abwanderungen während und im Nachgang der Rezessionsjahre ist die Bevölkerung in den baltischen Staaten gegen den Trend in der Eurozone rückläufig.
Die Inflation liegt im Durchschnitt 2015 voraussichtlich mit je deutlich unter einem Prozent auf dem Niveau der Eurozone. Eine Ausnahme bildet Litauen, das gleichzeitig die schwächste Entwicklung bei den Lohnstückkosten aufweist: hier wird die Teuerung im Jahresdurchschnitt unter null rutschen. Bei noch knapperen Ressourcen in einzelnen Arbeitsmarktsegmenten werden die Löhne allerdings künftig deutlicher steigen und auf die Preisentwicklung durchschlagen. Bereits in den vergangenen Jahren sind die Lohnstückkosten in den drei baltischen Ländern stärker gestiegen als etwa in Deutschland. Die Korrektur während der Rezession mit drastischen Lohnkürzungen ist deutlich erkennbar, der anschließende Aufwärtstrend verläuft im Vergleich zu den Vorkrisenjahren moderater.
Der Konjunkturimpuls vom Außenhandel war bereits in den Vorjahren durch die schwache Entwicklung in der EU verhalten und wird auch 2015 voraussichtlich das Wachstum bremsen. Zwischen 55 % (Litauen) und 72 % (Estland) der Exporte gehen in die EU-Länder. Zusätzliche Hemmnisse für baltische Exporte sind die Rezession in Russland und Einfuhrembargos, die das Land auch gegenüber baltischen Produkten verhängt hat. Denn Russland ist als Exportdestination trotz der Einbindung des Baltikums in den Euroraum noch immer von Bedeutung: für Litauen ist Russland mit einem Exportanteil von gut 20 % sogar das wichtigste Abnehmerland. Für Lettland kommt der östliche Nachbar mit 15 % als Exportland hinter Litauen an zweiter Stelle. Nur Estland hat seine Ausfuhren stärker nach Skandinavien ausgerichtet – allein ein Drittel geht hier nach Schweden und Finnland, Russland nimmt rund 10 % der Waren ab. Die Rezession und die russischen Einfuhrembargos für EU-Produkte wirken sich deshalb als Hemmnis für baltische Exporte aus. Entsprechend der geopolitischen Lage hat sich der Anteil der EU an den Ausfuhren Estlands und Lettlands 2014 im Vergleich zum Vorjahr leicht erhöht, der Anteil Russlands hingegen ist etwas gesunken. 2015 und 2016 werden diese Trends für alle drei Länder stärker ausgeprägt sein. Deutschland hat einen Exportanteil von rund 5 % bis 7,5 %, der weitgehend unverändert blieb.
Die Bedeutung Russlands für die Wirtschaft im Baltikum spiegelt sich auch in den Antworten der Konjunkturumfrage wider, die die Deutsch-Baltische Handelskammer im Frühjahr 2015 durchgeführt hat: 70 % der deutschen Unternehmen in Lettland und 60 % in Litauen gaben an, dass direkte Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen gegen und Embargos aus Russland auf das eigene Geschäft spürbar sind oder erwartet werden. In Estland liegt dieser Wert mit 43 % vergleichsweise niedrig. Die Konsequenz ist, dass in Lettland fast drei Viertel der Unternehmen die Erschließung neuer Märkte für wichtig oder sehr wichtig halten (Estland und Litauen jeweils 50-60 %).
Befragt nach den erwarteten Veränderungen in 2015 gehen die Unternehmen sogar insgesamt vermehrt von sinkenden Ausfuhren aus. Im Vergleich hebt sich Litauen ab, wo die Skepsis zwar auch zugenommen hat, dennoch aber fast die Hälfte der Unternehmen mit steigenden Exporten rechnet. Ursache dafür dürfte die Euro-Einführung zum 1.1.2015 sein, die von rund drei Viertel der Befragten positiv beurteilt wird. Für das Wirtschaftswachstum in der Region sind die aktuelle russische Rezession und die starke Rubel-Abwertung jedoch ein Bremsfaktor, und auch der westliche Nachbar und Handelspartner Finnland kämpft mit einer Konjunkturflaute.
Energetische Unabhängigkeitsbestrebungen
Einen starken Einfluss auf das unternehmerische Handeln und die Lagebeurteilung haben die Energiepreise und hier wiederum die Abhängigkeit von Importen zur Deckung des heimischen Bedarfs. Die Energieabhängigkeit variiert in den drei Ländern zwischen 12 % (Estland), 56 % (Lettland) und 78 % (Litauen). Für die Eurozone liegt der entsprechende Wert bei 60 %, Deutschland erreicht mit 63 % ein ähnliches Niveau. Nur Estland, das seinen Bedarf zu einem großen Teil aus heimischem Ölschiefer deckt, nimmt hier zusammen mit Dänemark als Schlusslicht in der EU eine relativ unabhängige Position ein. Dementsprechend machen sich Schwankungen der Öl- und Gaspreise auch unterschiedlich stark bei den Ausgaben der Verbraucher bemerkbar.
Bisher war die Abhängigkeit von russischen Lieferungen im Vergleich der drei Länder insbesondere in Litauen sehr ausgeprägt. Um hier gegenzusteuern, wurden in der litauischen Hafenstadt Klaipeda Möglichkeiten geschaffen, Flüssiggas von anderen Produzenten wie Norwegen über den Seeweg bereitzustellen. Die kostspielige Errichtung der notwendigen Infrastruktur hofft Litauen durch eine Erhöhung der Angebotsvielfalt und dadurch günstigere Konditionen wieder wettzumachen. Kernkraft spielt als Energielieferant im Baltikum nach der Abschaltung verschiedener Reaktoren und der Ablehnung eines Wiedereinstiegs in Litauen derzeit eine untergeordnete Rolle.
Reformbedarf zum Erhalt der Standortattraktivität
Bei der Umfrage der Deutsch-Baltischen Handelskammer äußerten sich die Unternehmen im Durchschnitt recht zufrieden mit ihrer Standortwahl. Die große Mehrheit würde sich erneut für eine Ansiedlung in den baltischen Ländern entscheiden, wobei Lettland hinter seinen beiden Nachbarn etwas zurückliegt. Besonders positiv erwähnt wurde jeweils die EU-Mitgliedschaft. Im Unterschied zu einigen anderen Ländern in der Region haben die Balten durch die Euro-Einführung einen besonders hohen Integrationsstand erreicht. Bei anderen Faktoren sind die Beurteilungen weniger einheitlich. So werden in Estland die Rechtssicherheit und die öffentliche Verwaltung gelobt, während in Litauen die Infrastruktur und die Transparenz der öffentlichen Vergabe zu den bestbenoteten Faktoren zählen, gefolgt von der Produktivität und der Qualifikation der Arbeitnehmer. In Lettland werden die Arbeitskosten und die akademische Ausbildung als besondere Pluspunkte genannt.
Um auch künftig für Unternehmensansiedlungen attraktiv zu bleiben, müssen die drei baltischen Länder bei den weniger gut bewerteten Faktoren aktiv werden. Unisono liegen das Berufsbildungssystem und die Verfügbarkeit von Fachkräften in der Bewertung der Unternehmen auf den hinteren Rängen. Eine brisante Kombination, die – zumal bei den zu erwartenden Vorlaufzeiten – mit hoher Priorität angegangen werden muss. In Lettland gesellen sich außerdem die Berechenbarkeit der Wirtschaftspolitik und die Korruptionsbekämpfung, die auch bei den mittel- und osteuropäischen Ländern insgesamt schlecht abschneiden, zu den Kritikpunkten hinzu.
Um hier das eigene Profil zu schärfen und ihre Standortqualitäten auszubauen, können die Balten auch auf die Strukturfonds der EU zurückgreifen. In der aktuellen Haushaltsperiode 2014-2020 sind für alle drei Länder jeweils Fördermittel in Höhe von fast einem Viertel des 2013 erwirtschafteten BIP vorgesehen. Mit einer reduzierten Anzahl der Programme und einer verstärkten Zusammenarbeit wollen die drei Länder die Synergieeffekte bei der Förderung besser nutzen. Angesichts niedriger Haushaltsdefizite dürfte die erforderliche Kofinanzierung kein Problem sein. Im zurückliegenden Finanzierungszeitraum von 2007-2013 wurden die EU-Fonds gut genutzt: Mit Absorptionsquoten von über 90 % lag der Nutzungsgrad in allen drei Ländern im EU-Vergleich im obersten Viertel. Wenn die im Zuge der neuen EU-Förderperiode 2014-2020 angestoßenen Ausschreibungen in konkrete Projekte umgesetzt werden, sind ab 2016 Impulse für die Investitionstätigkeit zu erwarten. Angesichts der Reformfähigkeit, die die drei Länder bereits unter Beweis gestellt haben, und mit den organisatorischen und finanziellen Kräften der EU im Rücken stehen die Aussichten gut, dass die baltischen Länder ihr Potenzial weiter ausbauen.