Ein Land hat sich schon immer recht distanziert gegenüber Integrationsprozessen verhalten: das Vereinigte Königreich. So sind die Briten nie der Europäischen Währungsunion beigetreten. Auch prägt der legendäre Ausspruch der früheren Premierministerin Thatcher "I want my money back" seit Jahrzehnten die britische Position. Daher überraschte es nicht, dass Premier Cameron Anfang 2013 eine Volksabstimmung über den sogenannten "Brexit", also den Austritt Großbritanniens, aus der Europäischen Union bis spätestens 2017 in Aussicht gestellt hat. Damals war allerdings die Arbeitslosenquote mit fast 8 % recht hoch und implizit wurde die EU dafür verantwortlich gemacht. Mittlerweile ist die Quote auf 6,6 % zurückgegangen.
Die Industrieunternehmen im Vereinigten Königreich, aber auch in Deutschland sind sich einig, dass ein Austritt Großbritanniens für alle Seiten negative Folgen hätte.
Ein bisschen anders sieht es in der Finanzbranche aus. Während die britische Finanzindustrie beim "Brexit" um die Zukunft des führenden europäischen Finanzplatzes London bangt, ist in den anderen europäischen Finanzzentren eher eine gewisse Gelassenheit zu beobachten. Es sind sogar Stimmen zu vernehmen, die sich aus einer Herauslösung Londons aus dem europäischen Kontext Vorteile für die anderen europäischen Finanzplätze versprechen. Was wäre aber, wenn sich London stattdessen nach dem ersten Schock als erfolgreiches off-shore Finanzzentrum etab-lieren würde?
Aus heutiger Sicht wären die Effekte keineswegs eindeutig. Entscheidend ist nicht allein, ob ein Land zur Europäischen Union gehört, sondern auch wie sich diese weiterentwickelt und die Han-dels- und Finanzbeziehungen zu anderen Ländern gestaltet. Sollten die Briten trotz eines Austritts alle Vorteile der Wirtschaftsgemeinschaft behalten, ohne an den Kosten beteiligt zu sein, wäre es für sie tatsächlich besser, die Europäische Union zu verlassen. Dies wäre aber sehr unwahrschein-lich, da beispielsweise der Abbau von Handelshemmnissen ein zentraler Baustein der Europäi-schen Union ist. So könnte der "Brexit" zu Handelsbeschränkungen gegenüber Großbritannien führen, unter denen Unternehmen dies- und jenseits des Ärmelkanals zu leiden hätten. Ist das Tor für Abschottungen erst einmal geöffnet, ist nicht auszuschließen, dass die "neue" EU dem Zeitgeist folgt und ihren Regulierungskurs forciert. Schon heute trifft die Finanztransaktionssteuer auf einen breiten Konsens innerhalb der Europäischen Union - obwohl die Briten noch in der Gemeinschaft sind.
Vermutlich gibt deshalb sogar innerhalb der EU den ein oder anderen, der den Quälgeist Großbri-tannien loswerden möchte. Dann wäre es nämlich leichter, die Regulierungsfestung Europa aus-zubauen. Gerade die Deutschen sollten daher alles tun, damit Großbritannien in diesem Kreis bleibt. Je mehr eine Nation vom Außenhandel abhängt, desto höher sind die Freihandelsgewinne. Wir sollten nicht das Risiko von Handelshemmnissen eingehen und dafür auf eine Schwächung des Finanzplatzes London durch einen "Brexit" setzen.
Europa braucht Reformen. Mehr Europa heißt aber nicht Zwangseuropäisierung, sondern Abbau von Hemmnissen, weniger Bürokratie und mehr Eigenverantwortung. Im Vordergrund sollte nicht eine weitere Zentralisierung, vielmehr das Prinzip der Subsidiarität stehen. Die britische Perspekti-ve Europas ist also auch aus deutscher Sicht zu begrüßen: die Länder Europas sollten wieder mehr Zuständigkeiten bekommen. Europa lebt von der Vielfalt. Das ist seine Stärke. Ein Austritt oder weitere Sonderrechte für Großbritannien sind nicht der richtige Weg.
Die Europäische Union steht an einem Scheideweg. Es geht um die Frage, ob ein "weiter so" der richtige Weg ist oder ein sich besinnen auf die Grundwerte nicht sinnvoller wäre. Die Briten fordern diese Überlegungen heraus. Darüber sollten wir nicht klagen, sondern dankbar sein. Denn nur wenn die Bürger in den einzelnen Ländern wieder das Gefühl bekommen, dass Europa Freiräume für Wachstum schafft, kann das europäische Projekt für Begeisterung sorgen.