Das Wachstum des ungarischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) fiel im Schlussquartal 2011 mit einem Plus von 1,5 % gegenüber dem Vorjahr (+0,3 % im Quartalsvergleich) besser aus als befürchtet. Im Gesamtjahr 2011 lag das reale Wachstum mit 1,7 % etwas höher als im Vorjahr (+1,3 %). Von der starken Rezession 2009 (-6,8 %) hat sich das Land aber noch nicht erholt. Die nachlassende Konjunkturdynamik in Ungarn und in den Hauptexportmärkten in der EU, notwendige Konsolidierungsmaßnahmen der öffentlichen Hand, die hohe Arbeitslosigkeit und die pessimistische Haltung der Verbraucher deuten auf ein schwaches Jahr 2012 hin. Über eine Stagnation wird die ungarische Wirtschaft nicht hinauskommen, bevor 2013 voraussichtlich wieder ein BIP-Wachstum von 1,4 % erreicht wird.
Ein Ziel, das Viktor Orban nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 2010 ausrief, wurde damit verfehlt: Ohne internationale Finanzhilfe und v.a. ohne die damit verbundenen Auflagen wollte er das Land wieder auf einen Wachstumspfad bringen. Die 2008 mit EU und IWF vereinbarten Hilfsprogramme wurden daher 2010 nicht verlängert. Jedoch ist die Unabhängigkeit des Landes offenbar geringer als angenommen, denn im November 2011 ersuchte Orban überraschend erneut um Unterstützung bei EU und IWF.
In den Gesprächen stehen neben umstrittenen gesetzlichen Maßnahmen besonders die öffentlichen Haushalte im Fokus. Dabei hat sich das in den Vorjahren übliche Staatsdefizit 2011 in einen Haushaltsüberschuss von 1,2 % des BIP gekehrt. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich diese vermeintliche Konsolidierung allerdings als Potemkinsches Dorf: Ohne Sondereinnahmen etwa aus der Rückverstaatlichung privater Pensionsgelder und aus sektorspezifischen Sondersteuern resultierte für 2011 ein Defizit von rund 6 %. Der Schuldenstand ist in den vergangenen Jahren ebenfalls rasant angestiegen und erreichte 2011 gut 80 % des BIP - über 20 Prozentpunkte mehr als im Jahr des EU-Beitritts 2004 und mit Abstand der höchste Wert in der Region.
Die EU-Kommission sieht das ungarische Vorgehen kritisch: Seit 2004 läuft wegen der wiederholten Überschreitung der Maastricht-Grenzwerte (3 % des BIP beim Defizit und 60 % beim Schuldenstand) ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn. Neu ist aber der Beschluss der EU-Kommission im März, dem Land 2013 rund 500 Mio. Euro (ca. 30 %) an Fördermitteln vorzuenthalten, sollten keine geeigneten Maßnahmen ergriffen werden. Damit rückt die Uhr quasi auf fünf vor zwölf. Die EU verschärft deutlich ihre Gangart, denn bislang hat kein anderes Vertragsverletzungsverfahren dieses Stadium erreicht. Im Juni soll eine erneute Prüfung der Sachlage stattfinden.
Anleger nervös An den Finanzmärkten wird Ungarn aufgrund seines schwachen Wachstums und der hohen Verschuldung mit großer Vorsicht betrachtet. Der unberechenbare Kurs der ungarischen Regierung geriet des Öfteren in die Schlagzeilen und hat damit nicht zur Beruhigung der Anleger beigetragen. Das Resultat ist eine hohe Schwankungsanfälligkeit bei der Rendite der Staatsanleihen und der Währung. Im Herbst 2011 stiegen die Zinsen für 10-jährige ungarische Bonds wieder deutlich - in der Spitze auf 11,7 % Anfang 2012. Der Forint erreichte gegenüber dem Euro zu Jahresbeginn ein neues Allzeittief von rund 320. Nachdem die ungarische Regierung ihren Willen zur Zusammenarbeit mit den Organisationen bekundet hat, liegt er aktuell bei 290 Forint je Euro.
Sowohl die hohen Zinsen als auch die schwache Währung sind für Ungarn eine enorme Belastung, denn das Land hat 2012 einen erheblichen Refinanzierungsbedarf von umgerechnet rund 15 bis 20 Mrd. Euro und darüber hinaus Rückzahlungsverpflichtungen aus früheren Krediten verschiedener internationaler Organisationen. Allein für den letzten Stand-by-Kredit des IWF sind in diesem Jahr 3 1/2 Mrd. Euro fällig. Auch im Hinblick auf den großen Anteil an Fremdwährungskrediten in Ungarn bedeutet der schwache Forint eine zusätzliche Erschwernis für die Wirtschaft.
Ende 2011 machte die rasant steigende Rendite bei Staatsanleihen und die daraus resultierende Verteuerung der staatlichen Refinanzierung das Hilfeersuchen beim IWF notwendig. Dass hier noch keine Einigung erzielt werden konnte, liegt daran, dass der IWF bislang die geforderten spürbaren Fortschritte im Sinne einer stabilitätsorientierten Politik in Ungarn vermisst. Eine Alternative zu internationaler Hilfe ist jedoch nicht in Sicht. Die eigenen wirtschaftspolitischen Möglichkeiten Ungarns sind aufgrund der schwierigen Haushaltslage erschöpft. Ebenso befindet sich die Notenbank in einem Dilemma: Sie kann die Zinsen nicht senken, denn die Inflation liegt mit fast 6 % wegen der gestiegenen Rohstoffpreise, der Mehrwertsteuer-Erhöhung Anfang Januar und des schwachen Forint mittlerweile deutlich außerhalb des Notenbank-Ziels von 3 % +/- 1 Prozentpunkt. Zinsanhebungen würden die Konjunktur weiter schwächen.
Die gegenwärtige Konstellation verdeutlicht, dass die ungarische Regierung bei Verhandlungen mit den internationalen Organisationen nicht mehr auf Zeit spielen kann. Zwar konnte bereits der Kontakt zum Währungsfonds die nervösen Anleger etwas beruhigen. Ungarn wird aber gut daran tun, den Absichtserklärungen nun schnell konkrete Schritte folgen zu lassen und alles für eine baldige Einigung mit den Institutionen zu tun.