Zweifelsohne befinden sich auch die Schwellenländer auf einem flacheren Wachstumspfad verglichen mit der Zeit vor der Finanzkrise. Bis dahin hatten viele rohstoffreiche Schwellenländer, wie zum Beispiel Brasilien und Russland, von dem starken Anstieg der Rohstoffpreise profitiert. Der Rohölpreis stieg im Sommer 2008 bis auf fast 150 Dollar pro Barrel. In der kurz darauf einsetzenden Finanzkrise fiel der Ölpreis bis auf 30 Dollar pro Fass, konnte sich aber dank der expansiven Geld- und Fiskalpolitik fast aller Länder deutlich erholen und stieg in den Jahren 2012 und 2013 wieder signifikant über 100 Dollar. Die meisten Prognostiker sahen damals den Ölpreis bald wieder auf den historischen Höchstwert aus dem Jahr 2008 zurückkehren, der offensichtlich als mentaler Anker fungierte. Dabei wurde allerdings übersehen, dass sich die ökonomischen Rahmenbedingungen grundlegend verändert hatten.
Die geplatzten Immobilienblasen sowie die Finanz- und Wirtschaftskrise in vielen Industrieländern hinterließen ihre Spuren. Sowohl der Bau- als auch der Finanzsektor fielen temporär als Wachstumstreiber aus und konnten in den meisten Ländern auch nicht mehr an die Raten der Vorkrisenzeit anknüpfen. Wachstumsdämpfend wirkten zudem die steigende Regulierung sowie eine allgemeine Verunsicherung der Wirtschaftsakteure. Während die Abflachung des Wachstumspfads in den Industrieländern in den vergangenen Jahren den meisten Marktteilnehmern sukzessive bewusst wurde, schrieben offensichtlich viele die Wachstumszahlen der Schwellenländer einfach fort. Solange die Rohstoffpreise sich relativ stabil hielten, fiel nicht auf, dass die Wachstumsmodelle vieler Schwellenländer auf tönernen Füssen standen. Denn auch dort bauten sich Ungleichgewichte auf. Die reichlich fließenden Einnahmen aus dem Rohstoffhandel ließen die Ausgaben im Inland deutlich ansteigen; eine wettbewerbsorientierte Wirtschaftspolitik schien nicht mehr nötig.
Mit dem Verfall der Rohstoffpreise seit Mitte letzten Jahres wurden die Schwachstellen der einzelnen Länder jedoch offengelegt. Besonders betroffen ist Russland, das nicht nur unter dem niedrigen Rohölpreis, sondern auch noch unter den Sanktionen, die infolge des Ukraine-Konfliktes verhängt wurden, leidet. So befindet sich Russland bereits seit dem vierten Quartal 2014 in einer Rezession. Auch Brasilien kann seit geraumer Zeit nicht mehr an die Erfolge vergangener Jahre anknüpfen und steckt sowohl in einer politischen als auch wirtschaftlichen Malaise. Die Korruptionsaffäre um den Erdölkonzern Petrobras führt zu einer innenpolitischen Lähmung, da viele Politiker betroffen sind. Auch Brasilien befindet sich in einer Rezession und das bereits seit dem 2. Quartal 2014.
Also ist die dortige Schwäche nicht wirklich neu. In den nächsten Jahren ist nicht mit einem signifikanten Anstieg der Rohstoffpreise zu rechnen. Eine schnelle Rückkehr zu hohen Wachstumsraten in den rohstoffexportierenden Ländern ist somit eher unwahrscheinlich. Aber eine Verschärfung der bereits vorhandenen Effekte ist ebenso wenig zu befürchten. Ganz im Gegenteil: So erwarten wir für Brasilien in diesem Jahr zwar noch einmal einen Rückgang des Bruttosozialprodukts um fast 3 Prozent, aber bereits im nächsten Jahr sollte die Wirtschaft kaum noch schrumpfen. Von Seiten der Geldpolitik sind aus Stabilitätsgründen keine Impulse zu erwarten. Da aber die Devisenmärkte das Thema „Abschwächung der Schwellenländer" bereits seit Mitte 2014 einpreisen, ergeben sich wechselkursbedingte Triebkräfte. Dies gilt nicht nur für Brasilien, dessen Währung gegenüber dem US-Dollar seitdem um mehr als 40 Prozent abgewertet hat, sondern auch für viele andere Schwellenländer. So sind die Chancen hoch, dass im kommenden Jahr die Schwellenländer zumindest wieder etwas mehr Dynamik zeigen werden und nicht – wie derzeit häufig prognostiziert – weniger.
Beitrag erschienen in „Die Welt", 27. Oktober 2015
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