„In den letzten Jahren hat der Schienenverkehr in Deutschland gegenüber den anderen Verkehrsträgern immer mehr Marktanteile hinzugewonnen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz sowie zur Verhinderung eines Verkehrskollapses“, sagt Dr. Wolf Gorka, Sprecher des Netzbeirats bei der DB Netz AG, der für das deutsche Schienennetz zuständigen Sparte der Deutschen Bahn. „Diese Entwicklung ist natürlich sehr erfreulich – sie wird jedoch dadurch in Frage gestellt, dass die Schieneninfrastruktur an vielen Stellen nicht mehr in der Lage ist, zusätzliche Verkehrsleis-tungen aufzunehmen.“
Zahlreiche Engpässe im Netz verhindern die Durchführung zusätzlicher Zugfahrten, daher drohen insbesondere im Bereich des Schienengüterverkehrs Transportaufträge auf die schon jetzt überfüllten Straßen abzuwandern. Vor allem bei der Bedienung der boomenden Seehäfen gibt es bereits einen Rückstau. Im Jahr 2006 hat der Schienengüterverkehr mit insgesamt 107 Milliarden Tonnenkilometer die 100-Milliarden-Marke erstmals überschritten, eine Steigerung um zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Anteil der Schiene am gesamten Güterverkehr („modal split“) stieg damit auf 17 Prozent. Durch den Wirtschaftsaufschwung hat sich die Transportnachfrage im Schienengüterverkehr zum Jahresanfang 2007 weiter erhöht. Prognosen für das Jahr 2015 gehen von über 150 Milliarden Tonnenkilometer aus.
Aber nicht nur die Gütertransporte, auch der Personenverkehr auf der Schiene hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Auswirkungen kennt Gorka, der auch Geschäftsführer der Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen ist, aus eigener Erfahrung: „Aufgrund der starken Belastung der Eisenbahninfrastruktur kommt es immer wieder zu Verspätungen im Zugverkehr und damit leider auch zu Imageeinbußen bei den Bahnen.“
Der Netzbeirat als Repräsentant der Infrastrukturnutzer hat die folgenden besonders gravierenden Engpässe im Schienennetz der DB Netz AG ermittelt, bei denen mit Hilfe des geforderten Sofortprogramms „Wachstum Schiene“ kurzfristig deutliche Verbesserungen erreicht werden können:
• Der stark zunehmende Seehafenhinterlandverkehr stößt oft bereits im unmittelba-ren Umfeld der Häfen auf Kapazitätsengpässe. „Die Züge, die oft bis Italien oder nach Osteuropa rollen sollen, werden bald schon in der Heide stecken bleiben“, so Gorka. Einen „bottle neck“ stellen insbesondere die Räume Hamburg und Bremen und deren Zu- und Abfuhrstrecken dar. Diese könnten kurzfristig durch mehrere kleinere Schritte entlastet werden: Ermöglichung paralleler Fahrmöglichkeiten in Hamburg-Hausbruch, Schaffung einer zusätzlichen Weichenverbindung in Hamburg-Harburg, Änderung der Anbindung des „Ostkopfs“ in Bremen Hbf., Ausbau des Bahnhofs Bremerhaven-Speckenbüttel, Ausbau des Umschlagbahnhofs Hamburg-Billwerder und Erweiterung der Tunnelprofile auf der Ruhr-Sieg-Strecke Hagen – Gießen. Hierfür erforderlicher Finanzbedarf: etwa 150 Millionen Euro.
• Bei den Grenzübergängen und deren Zulaufstrecken kommt es durch den wach-senden internationalen Schienengüterverkehr oft zu Rückstaus. Durch die Eröffnung der sogenannten Betuwe-Linie in den Niederlanden werden sich in nächster Zeit auf der deutschen Anschlussstrecke Emmerich – Oberhausen bis zur „Hinter-landdrehscheibe“ Duisburg die bereits heute bestehenden Kapazitätsprobleme wei-ter verschärfen. Diese ließen sich durch verschiedene kleinere Maßnahmen kurzfristig beseitigen: Neubau eines „Verkehrsknotens“ für den Kombinierten Verkehr in Duisburg, Schaffung einer zusätzlichen Gleisverbindung aus dem Knoten Mathilde nach Oberhausen West, dreigleisiger Ausbau der Strecke Emmerich – Oberhausen und verschiedene Maßnahmen im Rahmen des Gesamtkonzepts Westliche Ruhr (unter anderem in Gelsenkirchen, Bottrop Süd und Duisburg-Hochfeld). Ähnliches gilt im Übrigen für die ebenfalls an Bedeutung gewinnenden Grenzübergänge nach Polen. Hierfür erforderlicher Finanzbedarf: etwa 200 Millionen Euro.
• Im Alpentransit weist der Schienengüterverkehr erhebliche Zuwachsraten auf, die durch den Ausbau der alpenquerenden Verkehrsinfrastruktur (so zuletzt die Eröff-nung des neuen Lötschbergtunnels) noch weiter ansteigen werden. Dadurch kommt es bereits auf der deutschen Zulaufstrecke Karlsruhe – Basel zu Engpässen bei der Verkehrsabwicklung, die alle Schienenverkehrsarten beeinträchtigen. Mögliche Abhilfe: zeitnaher Bau eines Tunnels zur Unterquerung von Rastatt. Gesamt-volumen des Projekts: rund 375 Millionen Euro.
• Der zunehmende Schienenpersonenverkehr zwischen den Metropolen sowie die Vertaktung der Nahverkehrsangebote führen zu kritischen Infrastrukturengpässen und damit vielen Zugverspätungen. Als Beispiele seien die Knoten Hamburg, Nürnberg/Fürth, Köln, Frankfurt und Mannheim genannt. Des weiteren würde ein zweigleisiger Ausbau der bislang eingleisigen Strecken wie Hildesheim – Braun-schweig – Fallersleben oder Münster – Lünen viele Engpässe entschärfen.
„Die vom Bund vorgesehenen Ausbaumittel für die Schiene reichen nicht aus, um die Kapazitätsnachfrage auf der Schiene zu befriedigen. Wir werden daher das Sofortprog-ramm dem Ausschuss Eisenbahninfrastruktur des Deutschen Bundestages übergeben. Legt der Bund kein zusätzliches Programm auf, wird die bisher erfolgreiche Verlage-rung der Verkehre auf die Schiene zum Stillstand kommen“, so Gorka, „und das wäre sehr bitter für Umwelt und Wirtschaft.“