Gemeinsames Thema der ausgestellten Kunstwerke ist die Bewegung. In Kunsthandwerk und Architektur, in Bildern und Skulpturen gestaltete der Jugendstil ausdrucksvolle lineare Bewegungen, die bereits durch ihre bloßen Verläufe Empfindungen darstellen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Wirken des Bildhauers, Kunstgewerblers und Lehrers Hermann Obrist (1862 - 1927) in München. Bereits vor 1900 verselbständigte er lineare und rhythmische Bewegungen zu abstrakten und ausdrucksgeladenen Formen.
Eine Ausstellung von Stickereien in München wurde 1896 zum überragenden Kunstereignis. Mit ihr begann ein neuer Stil, den man nach einer frechen Münchener Zeitschrift den "Jugendstil" nannte. "Die gestickten Blumen, Pflanzen und Ornamente ahmten nicht die Natur oder klassische Vorbilder nach, sondern entstanden aus der freien Fantasie", erklärt Dr. Erich Franz, Kurator am LWL-Landesmuseum.
Ein Hauptwerk in der Stickerei-Ausstellung war ein Wandteppich mit den Maßen 1,20 mal 1,80 Meter, eine goldene Seidenstickerei auf grobem türkisfarbenem Baumwollgewebe. Ein serpentinenartig geschwungener Stängel umschlingt dünne Blätter und zwei Blüten, die an Alpenveilchen erinnern. Trotz der pflanzlichen Elemente ist das Gebilde eine freie Erfindung, ein überdimensioniertes Ornament mit einer einzigen Absicht: Bewegung. Der Entwerfer all dieser Stickereien war eigentlich Bildhauer: Hermann Obrist, Sohn eines Schweizer Arztes und einer schottischen Adligen. Ausgeführt hatte sie die Gesellschafterin seiner Mutter, Berthe Ruchet.
Begeistert schrieb damals ein Kunstkritiker in der modernen Kunstzeitschrift "Pan": "Wie die jähen, gewaltsamen Windungen der Schnur beim Knallen eines Peitschenhiebes erscheint uns diese rasende Bewegung." Damit hatte der Wandbehang mit Alpenveilchen seinen Spitznamen weg: der "Peitschenhieb". Für die jungen Künstler in München war er Signal zum Aufbruch in eine "neue Kunst" - ohne Nachahmung von Vorbildern, nur nach eigenem Gefühl.
Nach 110 Jahren kann der Wandteppich mit Alpenveilchen nicht mehr ausgestellt werden, der Stoff ist brüchig, die Farbe des Gewebes verschossen. So haben sich der Besitzer, das Münchner Stadtmuseum, und der Aussteller, das LWL-Landesmuseum am Domplatz in Münster, dazu entschlossen, das Kunstwerk nachsticken zu lassen. Die außergewöhnliche Kombination von "Flachstich", "Nadelmalerei" und "Unterlegstickerei" verleihen dem Werk den Charakter eines Reliefs. Eine große Herausforderung für Marie-Luise Frey-Jansen und ihre "Textilwerkstatt am Elisabethenstift" in Darmstadt. Teilweise werden die Stiche in fließenden Übergängen ineinandergesetzt, dann wieder kontrastreich flach nebeneinander. Zur plastischen Wirkung sind manche Partien mit Baumwolle unterlegt und dann kunstvoll überstickt. Obrist hatte als Vorlage sogar ein Tonrelief angefertigt. Die unterschiedlichen Richtungen der Fäden reflektieren das Licht immer wieder anders und verstärken ebenfalls die plastische Wirkung.
Seit vielen Monaten ist die Nachbildung in Arbeit. An den Kosten beteiligt sich die PSD-Bank Westfalen-Lippe. In der Vorweihnachtszeit wird der goldene "Peitschenhieb" ein Glanzlicht in der Ausstellung "Freiheit der Linie - Von Obrist und dem Jugendstil zu Marc, Klee und Kirchner".