Unzureichende Kenntnis der „Verlassenheit“
Während seiner zwanzig Berufsjahre hat sich die Erfahrung des frühen Verlassenwerdens für Dr. med. Daniel Dufour als eine der häufigsten Ursachen für die seelischen Leiden seiner Patienten herausgestellt. Als Arzt mit eigener Praxis – und zuvor als Koordinator für das Internationale Rote Kreuz in Kriegsgebieten – musste er erleben, dass der Verlust von Partnern, Kindern oder Eltern sowie Vertreibung und Verfolgung zu Reaktionen führen, die zwar aus menschlicher Sicht verständlich sind, aber von der Medizin nur unzureichend erkannt und behandelt werden. Auffällig dabei ist, dass auch die Betroffenen selbst sich oft gar nicht bewusst sind, worunter sie leiden. Der Schlüssel zur Genesung ist hier die Aneignung einer bestimmten Daseins- und Handlungsweise, um wiederkehrende Ängste und das Scheitern sozialer Beziehungen zu überwinden. Daher plädiert Dufour für die Einsicht, „dass allein der Betroffene in der Lage ist, die nötigen Schritte zu seiner Genesung zu machen, und dass der Weg, welcher ihm hierfür zur Verfügung steht, und der Grund all seiner Bemühungen für ihn genau wie für jeden anderen Menschen derselbe ist: Es ist die Liebe.“
Die Denke – intellektueller Schutzwall gegen Leiden
Sich von seinem Mann, seiner Frau, seinem Kind, der Mutter, dem Vater, der Gemeinschaft oder den Freunden verlassen zu fühlen bedeutet, sich isoliert zu fühlen, sich selbst überlassen zu sein. Erträgt man es schlecht, dann äußert sich dieses Gefühl des Verlassenseins in einer Reihe körperlicher und seelischer Beschwerden, die von leichter Beklommenheit bis zu Ängsten, von Depressionen bis zu Aggressionen reichen können. Doch es sind die Selbstentsagung und der Rückzug in sich selbst, die am stärksten ausgeprägt sind. Ein Mensch, der sich verlassen fühlt, wird sich auch ausgegrenzt vorkommen, um nicht zu sagen unwürdig. Aus dieser Abwertung leitet er ab, dass er es nicht wert ist, geliebt zu werden, auch wenn es sich dabei nur um eine Sichtweise handelt, die ein Resultat seiner „Denke“ bzw. seines „Egos“ ist. Darunter versteht Dufour all jene intellektuellen Schutzwälle, die wir errichten, um uns vor den Leiden zu bewahren, die uns von der Außenwelt zugefügt werden. Zu diesen zählt auch das Leid, das mit dem Verlassenwerden einhergeht.
Im Mittelpunkt der OGE-Methode: die Emotion
Die klassische Psychiatrie fasst unter der „Verlassenheitsneurose“ ein klinisches Syndrom zusammen, bei dem die Angst vor dem Verlassenwerden und ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis vorherrschen. Das daraus resultierende „abnorme“, d. h. abweichende oder auffällige Verhalten soll mit Hilfe analytischer und verhaltenstherapeutischer Maßnahmen korrigiert und mit Psychopharmaka kontrolliert werden. Demgegenüber rückt Dufour den unter der Verlassenheit leidenden Menschen und seine Emotionen in den Mittelpunkt. Nicht die Emotion sei es, die das Leiden auslöst, sondern ihre durch die „Denke“ erzwungene Unterdrückung. Unterdrückt werden kann das Erkennen dieser Emotion, was man aufgrund dieser Emotion verspürt oder wie man diese Emotion ausdrückt. „Es muss dem Verlassenen also gelingen, seine Denke zum Schweigen zu bringen, wenn er will, dass es ihm besser geht und er genesen kann.“ Dazu dient die von Dufour entwickelte OGE-Methode – eine buchstäbliche Umkehrung des Egos – mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit auf den physischen und sinnlichen Teil des Körpers zu richten, um zum inneren Wesen vorzudringen.
BUCHTIPP:
Dr. med. Daniel Dufour: Das verlassene Kind. Gefühlsverletzungen aus der Kindheit erkennen und heilen. Mankau Verlag, 1. Aufl. Juni 2012, 14,95 € (D) / 15,40 € (A), Broschur, 163 S., ISBN 978-3-86374-047-4.
LINK-EMPFEHLUNGEN:
* Informationen und Leseprobe zum Buch "Das verlassene Kind": http://www.mankau-verlag.de/...
* Mehr zum Autor Dr. med. Daniel Dufour: http://www.mankau-verlag.de/...