Um die genetische Verwandtschaft zweier Sprachen festzustellen verwenden Linguisten die vergleichende Methode, die auf den grundlegenden vier Eigenschaften von Sprache basiert: Wörter bestehen aus Lauten, die selbst keine eigene Bedeutung haben; bei der Mehrzahl der Wörter ist die Verbindung zwischen Laut und Bedeutung rein zufällig; Laute verändern sich mit der Zeit, und die meisten dieser Lautveränderungen folgen bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Diese vier Faktoren ermöglichen es den Sprachforschern, genetisch verwandte Sprachen zu identifizieren, indem sie miteinander verwandte Wörter identifizieren. Dies sind Wörter mit ähnlicher Bedeutung, die reguläre Lautentsprechungen aufweisen und daher mit großer Wahrscheinlichkeit weder zufällig noch durch Entlehnung entstanden sind. Da es sehr unwahrscheinlich ist, dass elementare Wörter (z.B. Körperteile, Pronomen, elementare Verben) entlehnt worden sind, sollte eine Liste verwandter Wörter Beispiele aus dem elementaren Vokabular beinhalten. Weitere Beweise für ererbte linguistische Beziehungen sind grammatikalische Unregelmäßigkeiten, die höchstwahrscheinlich ebenfalls nicht entlehnt worden sind. In ihrer aktuellen Studie kann Blevins auch erstmalig eine ganz neue Beziehung zwischen Laut und Bedeutung im Ur-Austronesischen aufdecken. In dieser rekonstruierten Sprache sind Substantive, die mit einem Vokal beginnen, entweder Bezeichnungen für Verwandtschaftsverhältnisse, Körperteile oder andere (unveräußerbare) Dinge, die in bestimmten Sprachen eine Besitzmarkierung erfordern. Dieselbe Wortklasse beginnt auch im Ur-Onge mit einem Vokal, der von einem besitzanzeigenden Präfix eingeleitet wird. Blevins vermutet, dass das Ur-Austronesische diese besitzanzeigenden Präfixe, die für Jarawa und Onge typisch sind, verloren hat.
Könnten Wörter, die ähnlich aussehen, entlehnt worden sein? In einigen Fällen, wie z.B. Auslegerbalken oder Gemeindehaus, ist die Antwort eindeutig “ja”, und die Technologie wurde höchstwahrscheinlich ebenfalls übernommen. In anderen Fällen ist das eher unwahrscheinlich. Das ur-austronesische Vokabular wird von zweisilbigen Wörtern dominiert. Schon 1916 begann der Schweizer Forscher Renward Brandstetter die Sprache zu rekonstruieren und fand innerhalb dieser zweisilbigen Wörter kleinere aus Konsonant-Vokal-Konsonant (KVK) bestehende Wurzeln, die eine Bedeutung zu haben schienen. Man vermutete folglich, dass diese Wurzeln vor Entstehung des Ur-Austronesischen unabhängige Wörter gewesen waren, die mit der Zeit von Präfixen und anderen Wortbestandteilen ergänzt worden sind, sodass letztlich zweisilbige Wörter entstanden. Blevins zeigt, dass diese KVK-Wurzeln in Onge und Jarawa als Wörter allein stehen und so zeitlich vor der Entstehung des Ur-Austronesischen anzusiedeln sind. Ein Beispiel ist das Ur-Onge Wort *tang 'Baum, Baumstamm; Stamm/Stiel (einer Pflanze); Griff (einer Axt)'. Eine verwandte KVK-Wurzel ist in vielen austronesischen Sprachen und im Ur-Malayisch-Polynesischen zu finden, wo z.B. die Wörter batang 'Baumstamm; Holzscheit' und *atang 'Querbalken' rekonstruiert werden konnten. Doch in keiner bekannten austronesischen Sprache oder Ur-Sprache wurde nur *tang rekonstruiert. Es gibt also keine Sprache, von der die blanke KVK-Wurzel entlehnt worden sein könnte.
Juliette Blevins betont, dass jeder Wissenschaftler, der über umfangreiche Kenntnisse des Ur-Austronesischen verfügt, dieselbe Entdeckung gemacht hätte, und dass sie einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen wäre. Seit einigen Jahren arbeitet Blevins auf demselben Gang wie Pramod Kumar, der sich im Rahmen seiner Doktorarbeit mit der Sprache Jarawa befasst. Als er Feldforschungsdaten, die er auf den Andamanen-Inseln gesammelt hatte, Blevins zur Begutachtung vorlegte, war diese überrascht, auf eine große Anzahl von Wörtern zu stoßen, die ihr aus dem Austro-nesischen bekannt vorkamen. Blevins rekonstruierte daraufhin erstmals die Ur-Sprache von Jarawa und Onge, indem sie nicht nur auf kürzlich gesam-melte Daten sondern auch auf Beschreibungen aus dem 19. Jahrhundert zurückgriff. Die Ergebnisse sind aus mehreren Gründen verblüffend. Die Sprachen der Andamanen-Inseln spalten sich in zwei Gruppen auf, Großandamanisch und Onge-Jarawa, von denen man bisher angenommen hatte, dass sie als isolierte Sprachen mit keiner anderen Sprache der Welt verwandt wären. Die Sprecher dieser Sprachen sind Jäger und Sammler und verkörpern, was Fachleute für die letzten Überbleibsel einer vorjungsteinzeitlichen Negroid-Kultur halten. Sie jagen mit Pfeil und Bogen, benutzen hauptsächlich aus Holz oder Knochen hergestellte Pfeilspitzen und verfügten in der Zeit vor ihrem Kontakt zur Außenwelt nicht über die Mittel um Feuer zu machen. Im Gegensatz zu diesen Sprachen sind die austronesischen Sprachen, zu denen die Eingeborenensprachen Taiwans, die malayisch-polynesischen Sprachen und die im Pazifikraum bis hin zur Osterinsel gesprochenen ozeanischen Sprachen zählen, eindeutig miteinander verwandt. Die frühesten austro-nesischen Sprachen wurden von Völkerstämmen gesprochen, die Landwirtschaft – hauptsächlich Viehzucht – betrieben und als Seefahrer unterwegs waren. Negroid-Populationen, die ähnlich den Bewohnern der Andamanen-Inseln als Jäger und Sammler leben, findet man auch auf den Philippinen und auf dem südostasiatischen Festland. Auf den Philippinen sprechen all diese Gruppen philippinische Sprachen, und man nimmt an, dass sie diese übernahmen, als Sprecher des Austronesischen die Inseln besiedelten. Ebenso verhält es sich in Malaysia und Thailand, wo negroide Jäger und Sammler Asli-Sprachen sprechen, die vom Ur-Austroasiatischen abstammen. Aufgrund dieser Situation ging man in den ersten vergleichenden Studien der Negroid-Sprachen im frühen 20. Jahrhundert davon aus, dass die Bewohner der Andamanen-Inseln die am meisten isolierte Negroid-Population waren, und man sich daher ihren Sprachen zuwenden müsse, um die Eigenschaften einer Negroid-Ursprache zu identifizieren. Dass die nähere Untersuchung dieser zwei Sprachen aber eine Verbindung zu frühen austronesischen Mongoliden-Populationen aufdecken würde, war überraschend.
Diese neuen Erkenntnisse werfen eine wichtige Frage geographischer Natur auf. Wenn Ur-Austronesisch vor 6000 Jahren im Südosten Chinas bzw. in Taiwan gesprochen wurde, was linguistische, archäologische und genetische Daten bestätigen, wo wurde dann Ur-Austronesisch-Onge gesprochen?
Negroide Jäger und Sammler ähnlich denen, die auf den Andamanen-Inseln leben, sind auch auf den Philippinen und auf dem südostasiatischen Festland zu finden, aber von diesen nimmt man an, dass es sich um in situ Populationen handelt. Obwohl genetische Studien auf eine längerfristige Isolierung der andamanischen Population hindeuten, kann man nicht aus-schließen, dass es in Südostasien eine gemeinsame Ur-Sprache gegeben haben könnte, die von genetisch verschiedenen Populationen gesprochen wurde. Während zukünftige genetische und archäologische Untersuchungen dieses Rätsel lösen werden, könnte die zukünftige linguistische Arbeit an den Sprachen der Andamanen-Inseln neue Überraschungen bereithalten. Onge mit 94 Sprechern und Jarawa mit 250 Sprechern sind bisher kaum dokumentiert und akut vom Aussterben bedroht. Der andamanische Stamm der abgelegenen Insel Sentinel Island ist Fremden gegenüber feindlich eingestellt, und daher ist von der Sprache dieses Stammes kein einziges Wort bekannt. Feldforschungsarbeit, ähnlich der von Pramod Kumar und seiner Tutorin Professor Anvita Abbi von der Jawaharlal Nehru Universität (Neu Delhi, Indien), ist dringend erforderlich um die Sprachen der Andamanen-Inseln zu erforschen, bevor sie für immer verloren sein werden.
Informationen zu den Sprachen und Kulturen der Andamanischen Inseln:
http:www.andaman.org
Website der Abteilung für Linguistik:
http://www.eva.mpg.de/lingua