Vor allem im Spätsommer und Herbst häufen sich Anfragen verzweifelter Eltern, berichtet I. Emmerling. Seit 2007 bietet sie kostenlose, fundierte Beratung rund um selektiven und totalen Mutismus an. Die Gründerin des Mutismus Beratungszentrums (MBZ) betont:
„Wenn Erstklässler in der Schule ankommen, ohne wirklich anzukommen, machen sich bei Eltern erste Zweifel und Sorgen breit. Häufig hören sie von Seiten der Schule, ihr Kind sei einfach stur oder schüchtern. Man solle Geduld haben, dem Kind Zeit geben, denn das werde sich schon irgendwann verwachsen.“
Wenn dem nach Wochen und Monaten der Stummheit und des Rückzugs nicht so ist, finden besorgte Eltern oft den Weg zum MBZ. Emmerling rät, nach spätestens 5 bis 6 Wochen ohne Sprechen eine spezielle Mutismus-Beratung, Diagnose oder Therapie in Betracht zu ziehen.
Mutismus erkennen und differenzieren lernen
Mutismus ist meist multifaktoriell bedingt und selten auf eine klare, zentrale Ursache zurückzuführen. Viel wichtiger als die Suche nach Gründen ist das möglichst frühe Erkennen von Anzeichen und die Beobachtung der Symptome. Im häuslichen und familiären Umfeld können sich mutistische Kinder oftmals völlig unauffällig verhalten, viel reden und lebhaft spielen.
Sobald sie ins Schulleben eintreten, haben sie einen starren Blick und vermeiden es tunlichst, auch nur einen Ton von sich zu geben. Sogar niesen, husten oder sich räuspern kann schon eine kritische Situation für ein solch verängstigtes Kind darstellen. Auch der Gang zur Toilette oder das Weinen, bspw. bei einem Sturz, werden strikt unterdrückt. Die Kinder können sich in einen Stupor-haften Zustand steigern, apathisch und wie eingefroren wirken.
Ängstliche Kinder mit verängstigten Eltern
Selektiver Mutismus ist nach ICD-11 Definition eine Angststörung und beschreibt die Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen zu sprechen. Von der Angst eines mutistisch geplagten Kindes bleiben Mama und Papa natürlich nicht verschont. Die Symptome zum Schuleintritt treffen Eltern und Erziehungsberechtigte oft wie ein Schlag: Das mutistische Verhalten ihres Kindes kannten sie bislang gar nicht oder nicht in diesem starken Ausmaß.
Vor Schuleintritt, im familiären Umfeld und dem Kindergarten bleiben mutistische Züge oft unerkannt. Die Vorschulkinder sind hier mit noch „weicheren“ Rahmenbedingungen und weniger Herausforderungen konfrontiert. Auch in der Schuleingangsuntersuchung oder den routinemäßigen Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt sind Anzeichen von Mutismus häufig noch nicht deutlich genug ausgeprägt oder werden schlichtweg fehlinterpretiert. Eine eindeutige Diagnose wird nicht selten erst im Zuge der U9-Untersuchung oder gar noch später gestellt.
Mutismus-Früherkennung und Spätfolgen
Eltern sehen in Erziehern, Ärzten oder Lehrern oft die Experten für ihr Kind, vertrauen auf die fachlichen Kompetenzen und die Fürsorgepflicht. Doch auch engagiertes und versiertes Personal ist nicht immer mit der Angststörung Mutismus und ihren Symptomen vertraut. Mütter und Väter, als die Personen, die ihrem Kind am nächsten sind, es „lesen“ können und am besten kennen, sollten sich vor allem auf ihre eigene Intuition verlassen.
Ein Verdacht auf Mutismus oder eine spätere, tatsächliche Diagnose ist gewiss kein Gedanke, mit dem sich Eltern gerne auseinandersetzen. Jedoch zeigt sich, dass eine möglichst frühe Diagnose und Therapie eine große Tragweite hat. Ohne Früherkennung oder bei erfolgloser Therapie können Kinder ihre Angststörung mit in die weiterführende Schule nehmen. Die Herausforderungen wachsen stetig, von der ersten Klasse bis zum Eintritt in das Berufsleben können sich Ängste und Zweifel immer weiter festigen und auch zu einer Reihe weiterer Symptome wie Ess- oder Schlafstörungen führen.
Mutismus ist Unvermögen, keine Unlust
Rund 4.000 kostenlose Gespräche hat Emmerling im Rahmen der Mutismus-Beratung in den letzten 18 Jahren geführt. Sie legt Müttern und Vätern ans Herz, sich auf ihre elterliche Intuition zu verlassen, dabei aber lieber voreilig als zögerlich zu handeln. „Ein Beschwichtigen oder Nicht-ernstnehmen von außen kann große Unsicherheit wecken, vor allem von Parteien, die fachlich oder menschlich großes Vertrauen genießen.“
Die Erfahrungen des MBZ decken sich mit allgemeinen Forschungserkenntnissen und Therapieverläufen: „Für Angehörige und Bezugspersonen ist es wichtig zu verstehen, dass selektiver Mutismus keine Verweigerung oder Unlust ist, sondern ein Unvermögen. Ablehnung oder Unverständnis von außen verstärkt die Ängste und Zweifel betroffener Kinder weiter, was den hohen Wert einer möglichst frühzeitigen Erkennung und Therapie unterstreicht.“