Um die im Jahr 1850 erfolgte Ernennung zum Nordseebad nachvollziehen zu können, muss man noch einige Jahre in die Vergangenheit springen. Bevor der Landchirurg Dr. Johannes Ripking 1838 von der königlich-hannoverschen Regierung 1838 als Inselarzt verpflichtet wurde, stand die Wirtschaft Borkums unter keinem guten Stern. Die Insel war noch in zwei Teile getrennt, nur bei Niedrigwasser erreichten die Bewohner des Ostlands den anderen Teil der Insel. Zusätzlich brachte der englisch-niederländische Seekrieg den Walfang zum Erliegen. Daraus resultierte ein deutlicher Einwohnerrückgang von 752 Insulanern (1780) auf 425 im Jahr 1817. Die Haupteinnahmequelle war die Landwirtschaft, besonders die Viehzucht. Erst ab 1835 besuchten wenige Erholungssuchende die Insel in den Ferien. Eine touristische Infrastruktur war noch gar nicht gegeben und so brachten die ersten Gäste ihre Betten, Geschirr und Lebensmittel einfach selbst mit.
„Bei Mutter Visser“
Dr. Ripkings Nachfolger, der Chirurg Ferdinand Friedrich Rhode, der 1850 seinen Dienst als Inselarzt antreten durfte, erkannte direkt zu Beginn das Potential und die heilsame Kraft Borkums. Wie sein Vorgänger warb er ebenfalls mit Artikeln sowie Anzeigen auf dem Festland für seine neue Wirkungsstätte. Einen kleinen Seitenhieb gegen den höfischen Nachbarn aus Norderney, der seit 1800 das Siegel „Seebad“ tragen darf, konnte sich Rhode in seinen Veröffentlichungen nicht verkneifen: „Hier lebt man für wenig Geld gut und ungeniert; hier fühlt man den Druck der sogenannten Etikette nicht; hier kleidet sich ein jeder wie es ihm beliebt“, schrieb der Chirurg. Diese Artikel und die erstmals veröffentlichten Kurgastliste sorgten dafür, dass 1850 rund 252 Badegäste die Insel besuchten. Dies sollte zeitgleich das Gründungsjahr des Seebades Borkum sein und die Erfolgsgeschichte nahm fortan Fahrt auf. Das Potential des Bädertourismus erkannt, entwickelte sich nicht nur die Insel in den folgenden Jahren rasch weiter, auch ihre Einwohner lernten dazu. 1852 errichtete Gastwirt Jan H. Visser neben seinem Haus in der heutigen Wilhelm-Bakker-Straße ein Sommerzelt und nannte es „bei Mutter Visser“. Dort wurden erstmals warme Mahlzeiten angeboten. Ein Fußweg von der Ortsmitte zum Weststrand und ein Holzschuppen zum an- und Umziehen verbesserten die touristische Infrastruktur. Der Ostfriesischen Landschaft war das sogar ein Zuschuss von 50 Thalern wert. Nicht nur auf der Insel wurde der Tourismus immer wichtiger, auch auf dem Festland tat sich einiges. So wurde 1856 die Eisenbahnstrecke zwischen Rheine und Emden von der „Hannoverschen Westbahn“ in Betrieb genommen und brachte vermehrt Gäste aus dem Rheinland und Westfalen nach Emden. Ab 1857 setzten sie von dort mit Dampfschiffen über. Da der Hafen erst 1888 erbaut wurde, legten die Schiffe so nah es ihnen möglich war am Südstrand an und bootete die Gäste mit Booten sowie Kutschen aus.
Erste behördliche Badekommission ab 1861
Während die Anfangszeit eher schleppend verlief, ging es anschließend umso schneller. Die steigenden Gästezahlen sowie die bessere Anbindung sorgten dafür, dass der Sohn des vormaligen Amtsvogtes Uhlenkamp ein Hotel mit Restauration erbaute. Weitere Hotels und gastronomische Angebote sollten folgen. Der Wandel von der Landwirtschaft zum Tourismus als Lebensgrundlage war erfolgt, die Lebensraumgestaltung ging mit der neuen Einnahmequelle Hand in Hand. Bereits 1861 wurde die erste behördliche Badekommission gewählt und brachte Ordnung in den Wirtschaftszweig „Tourismus“. Sie bestimmte beispielsweise die Preise der Gästezimmer nach Lage und Ausstattung und erstellte so eine Angebotsliste. Auch die Gebühren für Badekarren, Badezelte sowie die Reinigung für Badewäsche wurden von ihr bestimmt. Mit der Eröffnung des ersten Hotels stiegen auch die Gästezahlen. 1865 verbrachten bereits 1.024 Menschen ihren Urlaub auf Borkum, 1871 stieg die Anzahl auf 1.422. Mit der Inbetriebnahme des Hafens 1888 entwickelte sich auch die Gästeanzahl kontinuierlich positiv. 1893 konnte erstmals die 10.000er-Marke geknackt werden, zwölf Jahre später hat sich die Anzahl der Badegäste bereits verdoppelt.
Dieser Besucherstrom ist nicht zuletzt der gestiegenen Attraktivität zu verdanken. Die Badekommission machte einen hervorragenden Job und schuf stets neue Angebote. So darf sie sich bis heute das musikalische Angebot im Musikpavillon, die Unterstützung bei der Errichtung der Milchbuden sowie der Wandelhalle inklusive -bahn auf die Fahne schreiben und setzte so einen gesellschaftlichen Schwerpunkt, der die untere Promenade am heutigen Nordstrand sein sollte. Hotels im Stile der Bäderarchitektur gliederten sich in das wachsende Kurviertel hervorragend ein.
Stadt, NBG und Borkumer Vereine arbeiten Hand in Hand
Erst die Kriegsjahre sollten den schwungvollen Gästestrom zum Erliegen bringen. Aber bereits zwei Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs durfte sich Borkum erstmal über mehr als 30.000 Besucher sowie die Eröffnung zahlreicher Beherbergungsbetriebe, Restaurants und Kneipen freuen. Als 1968 die erste Autofähre „Rheinland“ in Betrieb genommen wurde, stiegen die Gästezahlen erneut rasant von ca. 71.000 bis 1975 erstmalig über 100.000 Urlauber, die nach Borkum reisten. Das kulturelle Angebot im Haus des Kurgastes, der heutigen Kulturinsel, zog die Urlauber in seinen Bann. Roy Black, Roberto Blanco oder Rudi Carrell gaben sich die Klinke in die Hand und gaben vor begeisterten Anhängern Konzerte. Das 1970 errichtete Meerwasser-Wellenbad am Standort des heutigen Gezeitenlandes, die Eröffnung des Nordsee-Aquariums sowie des Kinderspielhauses sorgen bei typisch norddeutschem Schietwetter für genügend Unterhaltung auch abseits des Strandes. Durch Trainingslager von Fußball-Bundesligisten, den Beach Days Borkum, dem Holi Festival, verschiedene Strandparties, kulturelle Feste, Beachvolleyballturniere oder Strandsegelregatten, veranstaltet und unterstützt durch die vielen verschiedenen Borkumer Vereine und der Nordseeheilbad Borkum GmbH, hat die Insel bis heute eine große Anziehungskraft. Das Resultat: 2017 konnte die Besucherzahl von 300.000 erstmalig erreicht werden. Mit dem ambitionierten Projekt „Borkum 2030 – Borkum als klimaneutrale Insel“ hat sich das Eiland in den jüngsten Jahren einen Namen über die deutschen Grenzen hinweg gemacht, darf sich dank großen Engagements seitens der Stadt und ihrer Tochter, der NBG, und der engen Zusammenarbeit mit den Insulanern über viele Förderprojekte und Modernisierungen freuen. Der Kern jedoch, die weiten Strände und die teils unberührte Natur, wird immer Borkums Charakter bleiben und symbolisieren. „In all unseren Projekten sehen wir es als unabdingbar, die Borkumer Kultur sowie die Historie der Insel mit aufzunehmen und in den Vordergrund zu stellen. Sei es die Bäderarchitektur, die inseltypische Flora und Fauna oder die Vereine mit ihrer gelebten Tradition. Ohne Borkums Vergangenheit können wir die Zukunft nicht angehen. Sie ist Teil unserer Identität und damit wichtiger Baustein für die Gestaltung unserer Lebensqualität“, sagt Göran Sell, Geschäftsführer der NBG.