Sind die Erstausrüstungsreifen abgefahren, empfehlen die Autobauer daher, sie durch gleichwertige Original Equipment-Reifen - kurz: OE-Reifen - zu ersetzen. Im folgenden Interview erläutert Michael Wendt, Geschäftsführer Technische Ressorts Pirelli Deutschland, die Unterschiede zwischen OE-Reifen und herkömmlichen Reifen für den Ersatzmarkt, die Anforderungen der Automobilkonzerne sowie die daraus resultierenden Herausforderungen für einen Reifenhersteller.
Herr Wendt, der Fahrer eines Premiumautos möchte Winterreifen kaufen: Zur Auswahl stehen ein für das Fahrzeugmodell maßgeschneiderter Pirelli Sottozero Serie 3 mit der entsprechenden Markierung auf der Reifenflanke, sowie ein für den Ersatzmarkt produzierter Pirelli Sottozero Serie 3. Wie groß sind die Unterschiede?
Michael Wendt: „Die Unterschiede sind tatsächlich beachtlich. Der als Original-Ausrüstung des jeweiligen Automobilherstellers markierte Reifen ist exakt auf dieses Fahrzeugmodell und dessen Fahrwerk ideal abgestimmt. Infolge dieser präzisen Abstimmung, die auf den individuellen Vorgaben des Herstellers basiert, stellt sich für den Endkunden ein deutlich entspannteres und sichereres Fahrverhalten ein. Und zwar unter allen Einsatzbedingungen. Das spürt der Fahrer zum Beispiel durch den beruhigend sauberen Geradeauslauf des Fahrzeugs in engen Baustellen oder bei hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn. Er bemerkt es aber auch am gleichmäßigeren Verschleiß- und Fahrverhalten
über die gesamte Lebensdauer des Reifens. Nicht zuletzt sprechen die Fahrzeugregelsysteme wie ABS und ESP dank der auf sie abgestimmten Reifen optimal an."
Worin bestehen die größten Unterschiede zwischen Erstausrüstungsreifen und Reifen für den Ersatzmarkt?
Michael Wendt: „Die Unterschiede finden sich oftmals in der Unterkonstruktion der Reifen, aber auch in der Formkontur sowie im Profildesign."
Welche Eigenschaften eines Fahrzeugs hängen in einem besonders hohen Maße von den Merkmalen der Reifen ab?
Michael Wendt: „Hervorzuheben sind die Fahreigenschaften wie der Geradeauslauf, das Lenkungsansprechen, die Fahrzeugstabilität und der Komfort, sowie die optimale Funktion der Regelsysteme, um Unfälle zu verhindern. Das gilt insbesondere für das ABS und die dadurch beeinflusste Länge des Bremswegs, sowie für das ESP und das dadurch ermöglichte Beherrschen des Fahrzeugs in kritischen Situationen und im Grenzbereich."
Was ist schwieriger zu entwickeln: Ein Serienreifen, der an vielen unterschiedlichen Fahrzeugmodellen unterschiedlicher Hersteller gute Leistungen zu bringen hat, oder ein Erstausrüstungsreifen, der an einem Modell sehr gut performen muss?
Michael Wendt: „Der Erstausrüstungsreifen ist schwieriger zu entwickeln. Denn er muss - unter Abwägung aller Einzeldisziplinen - für das jeweilige Zielfahrzeug den optimalen Kompromiss für das Handling, den Komfort, die Sicherheit und die Ökologie bieten. Und das in allen Fahrsituationen. Darauf ist der OE-Reifen speziell abzustimmen. Das dies komplizierter ist, spiegelt sich auch in den Zeitfenstern. Die Entwicklung eines Erstausrüstungsreifens dauert im Schnitt zwei bis zweieinhalb Jahre. Demgegenüber entwickelt ein Hightech-Produzent wie Pirelli einen Serienreifen in rund zehn bis 14 Monaten."
Wächst bei Endverbrauchern die Erkenntnis, dass es sich lohnt, abgefahrene Erstausrüstungsreifen durch OE-Reifen zu ersetzen?
Michael Wendt: „Pirelli hat die Erfahrung gemacht, das sich dieser Trend verstärkt und durchsetzt. Das lässt sich an den Verkaufszahlen in den Autohäusern erkennen, die nur OE-markierte Reifen vertreiben. Insbesondere Fahrzeugbesitzer im Premium- und im Prestigesegment legen besonderen Wert auf Qualität und Zuverlässigkeit. Die Zufriedenheit der Kunden mit der Erstbereifung spielt eine große Rolle für die Ersatzbeschaffung und Wahl des jeweiligen Produktes. Die zunehmende Aufklärung der Kundschaft über OE- markierte Reifen wird diesen Trend verstärken."
Ein Erstausrüstungsreifen muss Angaben von Automobilherstellern zufolge über 50 verschiedene Tests bestehen. Gilt das für Sommer- und Winterreifen gleichermaßen?
Michael Wendt: „Ja, die Anforderung besteht im Allgemeinen für Sommer und Winterreifen. Bei Winterreifen kommt aber stets das Überprüfen der Wintereigenschaften hinzu. Es gibt allerdings herstellerspezifische Unterschiede hinsichtlich der Zahl der Testanforderungen."
Ist das Prüfspektrum der führenden Automobilhersteller weitgehend identisch, oder gibt es auch herstellerspezifische Testkategorien?
Michael Wendt: „Die gibt es tatsächlich. Die Kriterien werden nach dem Know-how und der Philosophie des Herstellers festgelegt. So legt beispielsweise ein Hersteller weniger Augenmerk auf die Lenkungseigenschaften und die Sportlichkeit, stellt dafür aber höhere Anforderungen an den Komfort oder die Nässeeigenschaften der Reifen."
Bei den einschlägigen Reifentests der Fachzeitschriften werden Pneus in nur 12 bis 15 Kategorien getestet. Das bedeutet, Automobilhersteller testen OE-Reifen in 30 bis 35 weiteren Kategorien. Können Sie diese Vielzahl kategorisieren?
Michael Wendt: „Bei den Tests von OE-Reifen wird in erster Linie Wert auf die Interaktion zwischen Fahrzeug und Reifen gelegt. Wie gut passt der Reifen zu den im Fahrzeug verbauten Regelsystemen? Weiterhin wird das Verhalten des Reifens in einer Vielzahl von Dauerlauferprobungen überprüft."
Führende Automobilhersteller weisen darauf hin, dass ihre OE-Reifen die gesetzlichen Anforderungen um Längen übertreffen. Sind die gesetzlichen Anforderungen an Pneus zu niedrig angesetzt?
Michael Wendt: „Die gesetzlichen Anforderungen sollen primär den sicheren Betrieb von Fahrzeugreifen im Straßenverkehr ermöglichen und garantieren. Auf der anderen Seite werden die Reifenhersteller zu Spitzenleistungen getrieben, bedingt durch die technologische Weiterentwicklung sowie durch die hohen Anforderungen der Automobilhersteller der Premium- und Prestige-Segmente. Die dafür entwickelten Produkte übersteigen die gesetzlichen Anforderungen daher oft deutlich. Zumal Pirelli das Leistungsspektrum seiner Premiumprodukte durch ambitionierte interne Entwicklungs-, Produktions- und Qualitätsrichtlinien noch zusätzlich erhöht."
Wie relevant sind für Automobilhersteller die Werte auf dem EU Label eines OE-Reifens?
Michael Wendt: „Die Labelwerte sind Bestandteil der Lastenhefte, werden aber noch weiter präzisiert, zum Beispiel durch konkrete Festlegung eines Zielwertes für den Rollwiderstand innerhalb einer Rollwiderstandsklasse. Die Vorgabe kann also lauten: Innerhalb geforderter Labelklasse C mit zulässigen Werten von 7,8 bis 9,0 muss der Zielwert 8,0 erreicht werden."
Sind die Werte auf dem EU Label von Erstausrüstungsreifen und Serienreifen einer Dimension weitgehend identisch, oder weichen sie infolge der Spezifizierung des OE-Reifens deutlich voneinander ab?
Michael Wendt: „Die Werte des EU-Labels von Erstausrüstungsreifen können im Vergleich zu Serienreifen deutlich voneinander abweichen, abhängig vom jeweiligen OEM und Lastenheft. Es kann aber auch Übereinstimmungen geben."
Diese Erläuterungen verdeutlichen: Jede von den Automobil-Herstellern verliehene Erstausrüstungsfreigabe ist ein echtes Gütesiegel für den Reifen und den Reifenhersteller.
Mit über 2.000 Homologationen im Premium- und im Prestige-Segment ist Pirelli ein weltweit führender Hersteller in der Erstausrüstung. Alleine im vergangenen Jahr 2014 erhielt Pirelli 266 neue Erstausrüstungsfreigaben, 213 davon für Fahrzeugmodelle aus dem Premium- oder Prestige-Segment.