An unsere Grenzen geraten wir, lange bevor wir überhaupt in der Nähe der ehemaligen innerdeutschen Grenze sind. Bereits kurz nach dem Start am Göttinger Bahnhof stoppen wir auf einer Wiese im Naherholungsgebiet „Kiessee“. Zusammen mit dem Initiator dieser Fahrt, dem ehemaligen Kasseler Jugendbildungsreferenten Bijan Otmischi, habe ich einige Gemeinschaftsaufgaben und -spiele rund um die Begriffe Grenze und Freiheit erarbeitet. Im bodennahen Oktobernebel auf einer Feldwegkreuzung stehend sind die 15 Teilnehmer nun angehalten, sich in Zweiergruppen gegenseitig zu erklären, was für sie Freiheit bedeutet und welche Grenzen ihr eigenes Leben heute bestimmen. Die Paare bestehen stets aus einem Jugendlichen und einem Erwachsenen. Denn das ist die Idee dieser Fahrt: Unter dem Motto „Strampeln auf dem Grenzweg durch deutsche Geschichte“ waren Elternteile mit ihren jugendlichen Kindern zu einer zweitägigen Mountainbike-Tour von Göttingen nach Bad Sooden-Allendorf entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze eingeladen. Organisiert wurde die Fahrt vom Jugendbildungswerk des Landkreises Kassel, ich habe die Streckenausarbeitung und Tourenleitung übernommen.
Grenzen und Freiheit: für jeden etwas anderes
Paul, 13, berichtet von den Grenzen beim Parkour, die er immer wieder überspringen möchte. Und Stefanie, 12, kennt die Ausgrenzung, wenn das Taschengeld für einen Kinobesuch mit der Clique nicht reicht. Hans, ein Mittvierziger und aktiver Mountainbiker, schwärmt von der Freiheit, mit dem Rad überall hinfahren zu dürfen. Christian, 13, erzählt dagegen von der Unfreiheit, den Lehrer nicht kritisieren zu können, weil „der ja später die Noten macht!“ Die Stimmung in der Gruppe schwankt zwischen Dankbarkeit für die Freiheit der Gegenwart und Entsetzen über deren Begrenztheit. Zeit für Ablenkung: Wir erklimmen den ersten Anstieg des Tages hinauf zur Diemardener Warte, dem letzten komplett erhaltenen Wartturm des mittelalterlichen Frühwarnsystems für Göttingen, während von den Feldern gegenüber der Nebel weicht und plötzlich Windräder, Riesen aus der Neuzeit, auftauchen.
Von Reinhausen aus geht es stetig und leicht bergauf nach Lichtenhagen und weiter bis auf den Heidkopf. Diesen kennen die meisten aus dem Verkehrsfunk, wenn es sich vor dem Heidkopftunnel der A38 staut. Auf seinem Rücken treffen wir erstmals auf den Kolonnenweg der DDR-Grenzer und damit auf den exakten Verlauf der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. „Rollercoaster Hills“ heißen die welligen Bergstrecken, die sich beim Bergabfahren mit etwas Mumm und Geschick durchaus kraftsparend fahren lassen. Ein solches Filetstück der zweitägigen Tour haben wir nun vor uns. Und wieder tun sich Grenzen auf. Manches Rad ist für das Schlagloch-Stakkato der Lochplatten nicht so recht geeignet, bisweilen ist es aber auch der Fahrer, der das Tempo bergab begrenzen und so anschließend anstrengend kurbeln oder gar schieben muss.
Leerer Bauch studiert nicht gern
Die Achterbahnpassage endet, als der Kolonnenweg den Pilgerweg „Loccum-Volkenroda“ kreuzt. Ein guter Ort, um die Begriffe „Freiheit“ und „Grenzen“ aus dem politischen Kontext in den religiösen zu überführen. Nach ein paar lebhaften Wortbeiträgen stockt die Diskussion, vor allem bei den Jugendlichen. Das beruht mitnichten auf einer pubertären Abwehrhaltung, sondern ist schlicht dem Hunger geschuldet. Basale Bedürfnisse wollen befriedigt sein. Wir brettern die Schotterpiste zum Rittergut Besenhausen herunter, nur um vor den verschlossenen Türen des berühmten Hof-Cafés zu stehen. Die Stimmung ist am Boden! Väter, voller Vorfreude auf einen frischen Kaffee, hängen in den Seilen und sind außerstande, die Enttäuschung des Nachwuchses aufzufangen … Doch Bijan zückt Vorräte aus dem Begleitwagen: „Ahle Wurscht“, Kekse und Äpfel stillen Hunger und Gemüter. Wohlgestärkt geht es zum finalen Berg Richtung Bornhagen. Dort, im Strohhotel des Klausenhofs, fallen 15 Biker nach einem üppigen Rittermahl satt und müde in den Schlaf.
Am nächsten Morgen führt uns der Kolonnenweg zum Werrablick, über einen erstklassigen Singletrack geht es zum zweiten Frühstück an der Teufelskanzel. Das dort gelegene urige Wirtshaus ist ein beliebtes Ausflugsziel. Wie ein Hexenhäuschen liegt es mitten im Wald. Vor der Abfahrt wird nochmals durchgezählt: kein Kind im Kerker und alle gut gestärkt vom Frühstück!
Das Unbegreifliche lässt sich nur erfahren
Es ist mittlerweile Mittag, als wir erneut von der Landstraße auf den Plattenweg abbiegen. Geradeaus führt er den Hügel hinauf und wird immer steiler. Deutsche Grenzen-Gründlichkeit kennt keine Serpentinen. Einziges Zugeständnis an die Topographie: Die Lochplatten liegen in besonders steilen Passagen quer, so dass die Löcher als Leitersprossen dienen. Oben angekommen fahren wir ins Grenzmuseum Schifflersgrund, der ersten Gedenkstätte ihrer Art im wiedervereinten Deutschland. Perfider lässt sich die Architektur des Todes nicht erfahren, binnen eines Kilometers wandelt sich das wilde naturbelassene Grüne Band zur „restaurierten“ Gedenkstätte in Form eines konservierten „Antifaschistischen Schutzwalls“.
Wir fahren völlig vogelfrei durch schönste Natur, nur der eigene Puls gibt den Takt vor. Kein Gestern, kein Morgen, keine Verpflichtungen, keine Grenzen – nur eine endlose Aneinanderreihung von „jetzt und hier“. Dennoch ist der Boden unserer Route blutig. Die Grenze hat nicht allein Spuren in der Natur hinterlassen, sondern auch in Millionen Köpfen. Dieser Kontrast geht aufs Gemüt, spontan tauschen wir uns vor dem Museum aus und entscheiden, auf einen Besuch zu verzichten. Wie soll uns ein Museum begreiflicher machen, was letztlich unbegreiflich ist. Wir „erfahren“ lieber buchstäblich, was nicht vermittelbar ist. Rauf auf die Räder! Wieder Kolonnenweg. Einen knappen Kilometer auf dem Bergrücken geht es ostwärts zum Hof Sickenberg. Seine Grenzgeschichte ist so einmalig wie der Kuchen, den Kristina Bauer, die treibende Kraft hinter dem Projekt, im Angebot hat. Beides ein guter Abschluss einer zweitägigen Grenzerfahrung für Klein und Groß, bei der nicht nur die über 2.000 Höhenmeter auf kaum 65 Kilometern eine Herausforderung waren.
Infokasten Grenzsteintrophy
Die Grenzsteintrophy will die Idee der sogenannten „Self Support Rides“ (Selbstversorgerfahrten) in Deutschland erlebbar machen. Diese Fahrten verstehen sich als Gegenpol zu den überzüchteten Massenveranstaltungen mit ihren Negativerscheinungen wie Umweltzerstörung, Doping und Kommerz. Die Grenzsteintrophy ist kein Rennen, aber auch keine Radwanderung, sondern eine gemeinsam startende, individuelle und sportliche Extremtour. Entsprechend liest sich der Kodex der Grenzsteintrophy: keine Startgebühr, kein Preisgeld, kein Service, keine Zeitnahme und keine Organisation. Die Fahrer müssen sich selbst versorgen. Alle benötigte Ausrüstung und Verpflegung müssen sie auf dem Rad mitführen oder unterwegs kaufen. Jede Art vorterminierter Unterstützung schließt der Kodex kategorisch aus. Ziel dieses archaischen Reglements ist die maximale Herausforderung: Für den Fahrer und „nicht für eine Begleitcrew“, wie Initiator Gunnar Fehlau anmerkt! Im englischen Sprachraum wird diese Art Radtour als „Bike Packing“ bezeichnet. Die GST startet stets am 17. Juni und führt – je nach Streckenvariante – über 1.000 bis 1.250 Kilometer bei ca. 15.000 Höhenmetern entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Mehr unter: http://overnighter.de/gst/