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Forschungsoffensive Teil 4: Julian, 13 Jahre, Pfleger in Vollzeit

(lifePR) (Witten, )
Eine Wittener Studie erfasst ein in Deutschland bisher ausgeklammertes Thema: Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die ihre Eltern pflegen. Erste Ergebnisse zeigen, dass diese Familien dringend Hilfen benötigen.

In einer bundesweit einzigartigen Studie haben Pflegewissenschaftler der Universität Witten/Herdecke unter der Leitung von Prof. Dr. Wilfried Schnepp über 80 Interviews in 34 Familien geführt, in denen ein Angehöriger chronisch erkrankt ist. Neben den Eltern wurden vor allem die Kinder, die sich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen kümmern, zu ihrer Situation befragt. Ziel der jetzt begonnenen Untersuchung, die erneut vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird, soll ein Konzept sein, welches diese Kinder und ihre Familien spezifisch unterstützt. Entsprechende Initiativen fehlen derzeit in Deutschland völlig.

Wie viele pflegende Kinder es in Deutschland gibt, weiß niemand. Der Aufholbedarf hierzulande ist enorm, schaut man sich vergleichbare Zahlen aus Großbritannien an. Etwa 1,5% aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren versorgen dort laut einer Volkszählung von 2001 einen pflegebedürftigen Angehörigen. Das sind rund 175.000 Heranwachsende. "Überträgt man die Zahlen auf Deutschland, entspricht dies etwa 225.000 pflegenden Kindern hierzulande, eine Zahl, die uns durchaus realistisch erscheint", schätzt Sabine Metzing, Projektbeauftragte der Studie.

Der Begriff Pflege umfasst hier nicht nur die Hilfen für die erkrankte Person, welche medizinische Betreuung, emotionale und körperliche Unterstützung mit einschließt. Auch das Aufpassen auf Geschwister und das Erledigen von Hausarbeiten gehören dazu. "Lücken füllen und in Bereitschaft sein", so fasst Metzing die Strategie der Kinder zusammen, "Die Spanne reicht von ‚Ich helfe mit' bis ‚Ich bin rund um die Uhr für die Mutti da'."

Insbesondere auch der Zuwachs an Verantwortung für die pflegenden Kinder war Teil der Befragungen. "Es ist undenkbar, dass ein 13-Jähriger seine Großmutter badet oder eine 10-Jährige den Haushalt übernimmt, um ihre allein erziehende, an MS leidende Mutter zu entlasten", erklärt Metzing. Von klein auf übernehmen die jungen Helfer auch Elternfunktionen. Ein Extrembeispiel hat die Forscher besonders beeindruckt. Ein kleines Mädchen von viereinhalb Jahren, dessen Mutter in regelmäßigen Abständen rheumatische Schübe hat. "Die Kleine kümmert sich in dieser Zeit nicht nur um ihre Mutter, bringt ihr etwas zu essen und zu trinken und hilft bei Toilettengängen, sondern auch um ihre zweijährige Schwester", berichtet Metzing. Eine unbeschwerte Kindheit mit Herumtollen und freier Entfaltung, ist so für viele dieser Kinder mit chronisch körperlich oder psychisch kranken Eltern vor allem eins: Wunschvorstellung.

Es gibt viele Gründe, warum kaum jemand etwas über die Situation der jungen Helfer weiß. "Dies ist auch ein Problem unseres Gesundheitswesens", erklärt Metzing, "hier wird an vielen Stellen, sei es beim Hausarzt oder den Pflegediensten, weggeschaut." Oft fehlen die Zeit und das Bewusstsein dafür, dass es neben dem chronisch Erkrankten auch eine Familie gibt, die Hilfe benötigen könnte. Ein weiterer Grund ist die Angst der Betroffenen vor Stigmatisierung. "Viele Kinder haben einen Spießrutenlauf hinter sich", sagt Sabine Metzing. Mobbing in der Schule und soziale Ausgrenzung sind nicht selten. In vielen Familien herrscht daher ein unausgesprochenes Schweigegebot.

Was die Pflegewissenschaftler vorgefunden haben, ist ein starker Zusammenhalt in vielen dieser Familien. Für alle Angehörigen steht die Familie klar im Vordergrund. Zudem ist jedoch das Bedürfnis jemanden zum Reden zu haben groß, bei Eltern wie auch bei ihren Kindern. "Es ist ausgesprochener Wunsch dieser Familien, so normal wie möglich weiterleben zu können", erzählt Metzing, "wir wollen ein Konzept entwickeln, wie das umzusetzen ist."

Vorbild ist Großbritannien, hier gibt es derzeit etwa 350 Projekte, die sich den "Young Carers", den jungen Helfern, angenommen haben. In Deutschland gibt es nichts Vergleichbares. "Wir brauchen Anlaufstellen für diese Familien", so Metzing, "es fehlen hierfür derzeit noch Träger und Initiativen." Zusammen mit Organisationen, die Beratungsangebote leisten, soll nun die Grundlage für ähnliche Projekte auch in Deutschland geschaffen werden.

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Mit der Forschungsoffensive bieten wir einen konzentrierten Einblick in die Vielfalt der Forschungsthemen, die derzeit an der Universität Witten/Herdecke bearbeitet werden. Dabei berichten wir in den kommenden Wochen nicht nur über laufende Projekte aus den Bereichen Medizin, Biologie und Wirtschaftswissenschaften. Neben interessanten Zwischenergebnissen stehen auch Forschungsarbeiten im Mittelpunkt, die bereits kurz vor ihrer Publikation stehen.

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