Die Situation der Schülerinnen und Schüler kann nicht alleine nach den Durchschnittsnoten beurteilt werden. Bereits die unvorbereitete Einführung der verkürzten Schulzeit für angehende Abiturienten (G8) hat zu einem merklichen Anstieg von psychischen Konflikten geführt, die die heranwachsenden Jugendlichen und ihre Familien gleichermaßen stark beeinträchtigen. Inzwischen ist weiterhin eine erhöhte Belastung von Schülern und Eltern beobachtbar, weil die Anforderungen durch die Schulen zu einer erheblichen Verdichtung des Zeitaufwands geführt haben.
Der jüngst veröffentlichte "Freizeit-Monitor" der Stiftung für Zukunftsfragen belegt eindrucksvoll, wie sich innerhalb von drei Jahren die Zeitstruktur bei Heranwachsenden zum Nachteil der verfügbaren Freizeit verschoben hat. Ein Einblick in die psychische Entwicklung der Kinder macht dabei oft im Einzelnen sichtbar, was die Studie generell festgestellt hat: Kinder und Jugendliche haben weniger Zeit für sich und verfügen über weniger selbstbestimmte Zeit.
Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten betonen, dass es gerade in der Phase der adoleszenten Entwicklung notwendig ist, dass Heranwachsenden Spielräume blieben, um Entwicklungsschritte erproben und auch wieder revidieren zu können. Die seit der Einführung von G8 verengten Spielräume zeigen sich nicht nur darin, dass Freizeitaktivitäten in Sportvereinen und soziokulturellen Zusammenhängen nachlassen, auch bleibt den Schülern oftmals kaum Zeit, die eigene Entwicklung zu reflektieren und gegebenenfalls eigene Verhaltensmuster neu auszurichten.
In einer Lebensphase, die ohnehin von zahlreichen Krisen geprägt ist, weil die Schwelle zum Erwachsenenalter neue und oft überraschende Anforderungen stellt, während die körperliche Entwicklung erhebliche Irritationen hervorrufen kann, ist es wichtig, den Heranwachsenden Spielräume zu verschaffen, um kleinere Krisen selbständig bewältigen zu können.
Die Psychotherapeuten mahnen an, dass Jugendlichen heute immer weniger Raum bleibt, schwerwiegendere Krisen - auch im Rahmen einer Psychotherapie - bearbeiten und bewältigen zu können, ohne dabei den Anschluss an die Schule zu verlieren. Versuche der Veränderungen sind meist schon ummittelbar verbunden mit einem Einschnitt in der schulischen Laufbahn. Überlegungen, die Schule wieder zu einem offeneren Lern- und Erfahrungsraum werden zu lassen, sollte daher mehr Platz eingeräumt werden.
Auch nach der Öffnung der Schulen für eine Wiedereinführung von G9 müssen sich Eltern und Schüler mit einem veränderten Gesamtrahmen in den Schulen auseinandersetzen. Die Familien werden dadurch oft erheblich beeinträchtigt und kritisieren: "Was nutzt eine verkürzte Schulzeit, wenn viele Schüler entweder ein Schuljahr verlängern müssen, die Schule abbrechen müssen oder im besten Fall noch, nach erfolgreichem Schulabschluss, sich ein Jahr Auszeit nehmen müssen, um die Herausforderungen des Vergangenen für sich aufarbeiten zu können?"
Dass Lernen und Bildung dabei immer weniger als innere Entwicklungsprozesse gelehrt, sondern als bloße Aneignung von Wissensmodulen vermittelt werden, unterstreicht den Eindruck, dass der schulische Rahmen vermehrt einem rationalisierten Anspruch genügt und weniger die vielfältigen Ressourcen der Kinder einbezieht, die die Schulen besuchen. Auch hier sollten wieder Spielräume geschaffen werden, die Fähigkeiten der Kinder anzuerkennen und deren Entwicklung zu unterstützen.
Für die Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und - therapeuten in der Hessischen Psychotherapeutenkammer
Prof. Dr. Ulrich Müller
Marion Schwarz
Ariadne Sartorius