P.T.: Sie bezeichnen die Entwicklungen der Gesellschaft als so grundlegend wie die Industrialisierung. Wo sehen Sie die genauen Parallelen zwischen damals und heute?
P. Wippermann: Wir haben es beim Internet längst nicht mehr nur mit einer innovativen Technologie zu tun sondern, mit einer kulturellen Revolution.
Die Organisationsformen des Alltags sind dabei sich sehr schnell zu verändern. Alles was sich abschließend beschreiben lässt, wird Programm. Soziale Beziehungen werden kalkulierbar, selbst unser Paarungsverhalten wird zum Algorithmus.
Die zweite Realität der virtuellen Welt verändert die Spielregeln von Arbeit und Freizeit. Das schafft neue Machtverhältnisse zwischen den Digital Natives und den analogen Widerstandskämpfern.
P.T.: Der Weg in die ständige Erreichbarkeit verläuft nicht abrupt, sondern fließend. Was macht die Veränderungen so grundlegend und revolutionär?
M. Lause: Das Neue an der aktuellen Situation ist ja, dass diese technische Entwicklung nicht als Bruch der gewohnten Perspektive, sondern als Erweiterung des persönlichen Horizonts wahrgenommen wird. Die mobile Kommunikation ermöglicht es mit Gleichgesinnten in der ganzen Welt in Kontakt zu treten. Diese Möglichkeit erweitert nicht nur unsere Perspektive, sondern lässt auch die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit verschwimmen, beeinflusst so letztlich alle Lebensbereiche - eine solch grundlegende Veränderung, ob schleichend oder nicht, kann man doch wohl nur revolutionär nennen.
P.T.: Freiheit und Selbstbestimmung sind das Ziel der User, aber das hat auch ihren Preis. Welchen?
P. Wippermann: Freiheit setzt Selbstverantwortung voraus. Menschen werden vom technologischen und kulturellen Fortschritt nicht automatisch mitgenommen. Der Zugang zum Internet wird zur Eingangsvoraussetzung für die Teilnahme in der Netzwerkgesellschaft. Wer nicht angeschlossen ist, wird zunehmend aus der Gesellschaft ausgeschlossen.
P.T.: Durch Smartphones und Tablets wird die persönliche Freizeit gefährdet. Wo und wie können noch persönliche Oasen geschaffen werden?
M. Lause: Das ist eine Frage der Perspektive. Für die Netzgesellschaft baut das eigene Verständnis von Individualität ja gerade auf die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft auf: Frei ist derjenige, der ungehindert auf alle verfügbaren Medien und sozialen Netzwerke zugreifen kann. Und diese Begegnung findet im Netz nun in einer hoch konzentrierten, beschleunigten Form statt. Deshalb nimmt die Netzgesellschaft die modernen Kommunikationsmittel eben nicht als Bedrohung für die eigene Freiheit wahr, sondern als wichtiges Werkzeug für die persönliche Selbstentfaltung.
P.T.: Auch Unternehmen müssen aufpassen, nicht den Anschluss zu verlieren. Was empfehlen Sie?
M. Lause: Um diese radikale Wende zu überstehen, müssen sie neue Formen für die Zusammenarbeit mit den Konsumenten, aber auch mit den Lieferanten, Vermarktern und Händlern entwickeln. Dies bedeutet, dass der Innovationsprozess über die Unternehmens- und Branchengrenzen hinweg geschehen muss, um das Wissen und die Erfahrung aller zur Verfügung stehenden Quellen aktiv zu erschließen.
P.T.: Der einzelne Kunde ist plötzlich im Mittelpunkt des Interesses, Massenprodukte funktionieren nicht mehr.
P. Wippermann: Die Industrialisierung der Produktion ging von der Steigerungslogik aus. Die Massenproduktion war das erklärte Ziel. Jeder sollte das Gleiche bekommen können. Großhandel und Handel sorgten für den Vertrieb.
In der Netzwerkökonomie geht es um Individualität und Zeit. Erst wird das Produkt persönlich konfiguriert, dann bezahlt um schließlich produziert und individuell ausgeliefert zu werden. Die Vorfinanzierung der Produktion und die Verkürzung der Wertschöpfungskette schaffen mehr Effizienz. Es wird nicht auf Verdacht produziert sondern nach Bedarf.
P.T.: Auch in der Wirtschaft hat der Wandel Folgen: Massenprodukte funktionieren nicht mehr, Individualismus bestimmt den Konsum.
M. Lause: Das ist richtig. Um noch wahrgenommen zu werden, müssen die Unternehmen künftig dort präsent sein, wo ihre Kunden sind: in der digitalen Welt. Wer nicht angeschlossen ist, wird ausgeschlossen sein. Interaktive Netzwerkmedien SMS, Mobiltelefone, E-Mails, Blogs, Videos und soziale Netzwerke ermöglichen jederzeit einen Dialog unter den Konsumenten und zwischen den Konsumenten und den Unternehmen. Dieser Prozess lässt sich jedoch nicht mehr im klassischen Sinne steuern, weshalb die Unternehmen neue, angepasste Marketingstrategien entwickeln müssen, die diese Form der Kommunikation zulassen und kultivieren.
P.T.: Unternehmen sehen sich mit neuen Fragen konfrontiert: "Wie integriere ich den Kunden am besten in die Produktion?", anstatt "Was biete ich dem Kunden an?"
P. Wippermann: Netzwerke leben vom Dialog. Wer Beziehungen individuell und weltweit gestalten kann, gewinnt.
Das bedeutet für die Unternehmen eine neue Organisationsstruktur: nach den Produktmanagern werden es die Peoplemanager sein, die den Erfolg eines Unternehmens maßgeblich steigern werden. Voraussetzung ist das Überwinden der Silostrukturen in den Unternehmen. Der Zusammenarbeit, nicht der Arbeitsteilung gehört die Zukunft.
P.T.: Wenn Innovation demokratisiert wird, müssen die Kunden dann nicht auch an Gewinnen beteiligt werden?
M. Lause: Im gewissen Sinne werden sie ja auch an den Gewinnen beteiligt. Denn am Ende dieses partizipativen Entwicklungsprozesses steht im Idealfall ein Produkt, das weit besser auf die Ansprüche und Wünsche der Kunden abgestimmt ist, als das ein anonymes Massenprodukt jemals sein konnte. Und während die ideelle Wertschöpfung vollständig den Kunden zugute kommt, liegt die Moderation dieses Prozesses bei den Unternehmen. Sie sehen: Alle Akteure müssen investieren, um gemeinsam zu einem besseren Ergebnis zu kommen.