Das Hauptproblem, welches das Gehirn beim Wahrnehmen von Dingen lösen muss, ist die Unterscheidung von Form und Hintergrund. Wie wichtig dabei Farben sind, zeigt zum Beispiel der so genannte Wasserfarbeneffekt. Ein internationales Psychologenteam – John S. Werner aus den USA, Baingio Pinna aus Italien und Lothar Spillmann aus Deutschland – demonstriert den Effekt in der August-Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft anhand einer Karte des Mittelmeers. Die Grenzlinie zwischen Wasser und Land wird mit zwei schmalen Farbstreifen nachgezogen, einem dunkleren und einem helleren. Das Gehirn erzeugt dann die Illusion, der hellere Streifen breite sich von der Grenze über die Fläche aus wie zerlaufende Wasserfarbe. Nur wenn der hellere Streifen sich auf der Festlandseite der Mittelmeerkarte befindet, hebt er durch den Wasserfarbeneffekt die Konturen von Italien, Griechenland und Türkei hervor; im umgekehrten Fall erscheint das Meer als kompaktes, unbekanntes Objekt.
Besonders eingehend haben die drei Forscher sich mit der Ehrenstein-Täuschung beschäftigt, die der gleichnamige deutsche Psychologe 1941 entwickelt hat: Wenn radial zusammenlaufende Linien in der Mitte ein kreisförmiges Gebiet aussparen, erzeugt das Gehirn daraus die Illusion einer leuchtenden Scheibe. Vermutlich sind an dieser Täuschung Nervenzellen beteiligt, die speziell auf die Enden von Linien ansprechen und daraus Objektgrenzen konstruieren.
Die drei fragten sich nun: Was geschieht, wenn man Farben ins Spiel bringt? Den spektakulären Effekten, die durch zusätzliche Farbringe oder veränderten Hintergrund entstanden, gaben sie sprechende Namen wie „szintillierender Glanz“ und „blitzender anomaler Farbkontrast“. Über die zugrunde liegenden Hirnvorgänge sind sich die Gelehrten noch nicht einig. Fest steht jedenfalls: Farben sind viel mehr als nur eine schöne Zutat. Unser Gehirn kann sie gut brauchen, um aus der verwirrenden Vielfalt der visuellen Einzeldaten, die pausenlos auf die Netzhaut einstürmen, die Gestalt von Gegenständen zu erzeugen.