Dr. Matthias Hiller hält eine Professur für Rechnungswesen und Steuerlehre an der SRH Fernhochschule, ist Mitinhaber einer Steuerkanzlei und ist seit seinem 19. Lebensjahr politisch aktiv. Vor wenigen Wochen ging er als „Stimmenkönig“ aus den Kommunalwahlen in Nürtingen hervor. Er hat (leidvolle) Erfahrungen mit Hassrede im Netz. Und zwar immer häufiger. Dass sich die Situation in den letzten Jahrzehnten zugespitzt hat, erklärt er sich so: „Durch die Sozialen Medien hat sich die Aufmerksamkeitsspanne auf ein paar Sekunden Video oder einige Sätze in einem Post reduziert. Hierdurch werden viele Sachverhalte vereinfacht und zugespitzt. Entsprechend sind auch die Rückmeldungen, die Politiker:innen bekommen, öfter zugespitzt.“
Von abschätzigen Briefen über vomitierende Emojis bis zur Beleidigung
Hiller bekam bereits anonyme Briefe, in denen er angegriffen wurde, meist richtet sich die Wut aber nicht gegen ihn selbst, sondern seine Partei. Trotzdem. Kritik einstecken zu müssen und Kommentare unterhalb der Gürtellinie zu kassieren, hat Auswirkungen. Hiller sagt: „Was mich ärgert ist, dass diese Personen nicht sehen, wieviel Arbeit in einem kommunalen Ehrenamt und auch im dazugehörigen Wahlkampf steckt. Der gesamte kommunale Wahlkampf wird ehrenamtlich gemacht, Infostände, Prospekte verteilen, Plakate aufhängen und zerstörte und beschmierte Plakate ersetzen…“
Häufigste Opfer von Hassrede: Politiker:innen & Prominente, Jugendliche & Journalist:innen
Hiller ist mit seinen Erfahrungen nicht allein. Es gibt zahlreiche, alarmierende Statistiken zu Hassrede im Netz. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (2021) ergab, dass 64% der deutschen Bundestagsabgeordneten Online-Hass und Bedrohungen erfahren haben. Auch Prominente werden oft Opfer von Hate Speech. Laut einer britischen Studie von The Guardian (2016) sind Prominente, insbesondere Frauen und Minderheiten, häufig Ziele von Hassrede und Online-Belästigung. Über 50% der befragten Prominenten gaben an, regelmäßig Hasskommentare zu erhalten. Dazu gibt es Berufsgruppen, die besonders oft im Visier der Mobber landen: Journalist:innen. Ein Beispiel hierzu: Eine Umfrage des International Center for Journalists (ICFJ) und des UNESCO (2020) zeigte, dass 73% der weiblichen Journalistinnen weltweit Online-Belästigung erlebt haben. Doch am häufigsten betroffen von üblen Kommentaren, Beleidigungen und Co. ist eine ganz andere Personengruppe. Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren. Laut einer Studie der EU-Kommission aus dem Jahr 2018 haben etwa 12% der Jugendlichen in Europa Cybermobbing erlebt.
Dr. Thomas Bippes ist Professor für Medien, Kommunikation & Online-Marketing an der SRH Fernhochschule. Er weiß: „Nach Angaben des Bundesverbands der Kommunikatoren e. V. (BdKom) ist die Arbeit von Menschen, die als professionelle Kommunikatoren in Deutschland tätig sind, ganz erheblich vom Phänomen Hate Speech beeinflusst. Demnach haben ca. 45 Prozent von ihnen in ihrer täglichen Arbeit mit Hate Speech zu tun, vor allem über die Sozialen Medien. Ein deutlicher Anstieg dieses Phänomens lässt sich seit 2015 registrieren. Hate Speech – oder zu Deutsch Hassrede – ist nicht einheitlich wissenschaftlich definiert. In manchen Fällen ist Hate Speech deutlich zu erkennen, manchmal tritt das Phänomen unterschwellig auf. Es richtet sich gegen Einzelne oder Gruppen, die aufgrund von Herkunft, Religion oder sozialer Zugehörigkeit, wegen Behinderung oder Geschlecht diskriminiert werden. Eine aktuelle Studie mit dem Titel „Lauter Hass – Leiser Rückzug“ des Kompetenznetzwerkes gegen Hass im Netz aus dem Jahr 2024 hat herausgefunden, dass ein Viertel der Befragten mit körperlicher, 13 Prozent mit sexualisierter Gewalt konfrontiert wurden und fast jede zweite junge Frau bereits ungefragt Nacktfotos erhalten hat.“
Freiheit unter dem Deckmantel der Anonymität
Bippes berichtet weiter: „Besonders im Internet spielt Hate Speech eine Rolle. Dort lässt sich leicht ein verzerrtes Bild der realen Meinung generieren, befeuert durch vermeintliche Freiheit unter dem Deckmantel der Anonymität. Leicht lässt sich so enthemmter Hass ausleben, ohne dass es Konsequenzen hätte. Es fehlt die direkte Resonanz des Gegenübers – und das macht hemmungslos. Die Folgen für die Opfer sind oft gravierend. Tätern drohen Strafanzeigen, Geldstrafen oder Haftstrafen. In vielen Fällen liegt dem Hate Speech ein Mangel an Selbstwertgefühl zugrunde, außerdem die Angst, dass andere einem etwas wegnehmen könnten. Wer andere Gruppen abwertet, kann seine eigene Gruppe aufwerten. Machterhalt und eine Ungleichheit im Sinne von „Wir gegen Die“ spielen eine Rolle.“
Verheerende Folgen für (psychische) Gesundheit der Opfer und Antrieb der Täter:innen
Doch warum machen Menschen sowas? Was sind das für Menschen, die im Internet, zum Teil mit Klarnamen, über andere herziehen? Dr. Seidl hält an der SRH Fernhochschule eine Professur für Psychologie. Sie ordnet ein: „Hier lässt sich kein einheitliches Bild zeichnen à la „frustrierter Einzelgänger, einsam und voller Groll vor seinem PC sitzend“. Menschen, die im Internet andere beleidigen oder herabsetzen, tun dies aus unterschiedlichen Motivationen heraus. Häufig stecken hinter Hate Speech Menschen, die ganz genau kalkulieren und dieses Mittel gezielt zur Einschüchterung einsetzen, um die eigene Agenda voranzutreiben. Sie wissen, was sie mit ihrem Hass anrichten können. Daneben gibt es natürlich auch Personen, die eher aus einem Affekt heraus reagieren und keine anderen Strategien kennen, als sich so zu verteidigen.“
Aufwertung durch Abwertung
Seidl bestätigt Bippes‘ Erklärung der Aufwertung durch Abwertung: „In der Herabwürdigung des anderen erfährt das eigene Selbstwertgefühl eine Aufwertung. Ich fühle mich wieder als wer; „dem habe ich es aber gezeigt“ als Kompensation der eigenen gefühlten Unsicherheit. Gerade Menschen, die verunsichert sind und Kontrollverlust erleben, können so ein Gefühl der scheinbaren Kontrolle wiedererlangen. Oft erfahren sie sogar eine Aufwertung, weil andere sie für ihre Worte liken, sie bestärken und dadurch ein Gruppen- und Zusammenhangsgefühl entsteht. Wenn dann in der öffentlichen Debatte, durch Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, die Grenzen des Sagbaren bewusst aufgeweicht werden, legitimiert dies die Entgleisungen einer Einzelperson. In den Sozialen Netzwerken bleiben solche Äußerungen ohne Einordnung stehen und dienen als Orientierung für Sagbares.“
Anonym oder mit Klarnamen: Die Dynamik hinter den Mobber:innen
Seidl: „Hinter der Anonymität kann ich Dinge sagen, die ich mich sonst nicht getraue. Ich kann einmal austesten: Wie fühlt sich das an, wenn ich das schreibe? Welche Reaktionen bekomme ich darauf? Hat es Konsequenzen? Und wenn diese nicht folgen, kann man einen Schritt weiter gehen und seinen Namen hinter das Statement setzen. In der Sozialpsychologie gibt es die Theorie der sozialen Identität (Tajfel und Turner), die hier auch gute Erklärungen bietet: Eine Gruppe fühlt sich dann besonders gut, in sich auch geeint und gestärkt, wenn sie die andere Gruppe abwertet. Die Hate Speech dient hier also vorrangig zur Gruppendefinition und Aufwertung der eigenen Gruppe. Unter Klarname kann es auch so etwas wie eine Mutprobe sein, die die eigene Stellung innerhalb der Gruppe festigt.“
Scham, Schlafstörungen, Suizid: Auswirkungen auf Opfer von Hate Speech
An den Betroffenen geht Hassrede nicht spurlos vorbei. Prof. Dr. Sarah Seidl erklärt, was es mit den Menschen macht, die von solchen Anfeindungen betroffen sind: „Hate Speech wird ganz bewusst eingesetzt, um Betroffene einzuschüchtern, Personen, die nicht die eigene Meinung vertreten aus dem öffentlichen Diskurs heraus zu drängen und klein zu machen. Dabei wird sich nicht auf inhaltliche Aspekte fokussiert, sondern persönliche Angriffe verwendet.
Dies ist häufig erfolgreich: Betroffene berichten von Angst, sich weiter zu äußern, erleben Stress. Nicht selten ziehen sie sich aus den Debatten zurück. Aber auch auf psychischer Ebene kann das zu depressiven Symptomatiken und Selbstzweifeln führen. Die eigene Selbstwahrnehmung kommt ins Wanken und eine allgemeine Verunsicherung über den digitalen Raum hinaus kann eintreten.“ Es gibt Fälle, in denen massives Cybermobbing Opfer in den Suizid getrieben hat.
Kein Futter für den Troll oder Anzeige? – Wie verhalten sich Betroffene richtig?
Doch was tun, wenn man Opfer von Hassrede wird? Was kann die beste Vorgehensweise sein? Seidl: „Hier gibt es keine einheitliche Lösung, sondern die Person muss für sich selbst ausloten, was für sie und die Situation passt. Zunächst einmal hilft es, einen Schritt gedanklich und real zurückzutreten. Nicht gleich (oder überhaupt nicht) reagieren, andere zur Unterstützung heranziehen, etwas Zeit verstreichen lassen und sich sammeln. Wichtig ist auch, eine Dokumentation und eine Einordnung in die Realität. Teil von Hate Speech kann ja auch das Absprechen der eigenen Wahrnehmung sein, daher ist es wichtig, Worte für das Erlebte zu finden und einzuordnen. Etliche soziale Plattformen bieten darüber hinaus auch Blockier- und Meldefunktionen an, die man großzügig nutzen sollte.“
Zuviel ist zu viel: Ab diesem Punkt drohen rechtliche Konsequenzen
Dr. Simon A. Fischer hält eine Professur für Wirtschaftsrecht an der SRH Fernhochschule. Er beleuchtet den rechtlichen Aspekt von Hate Speech: „Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein Grundrecht und genießt daher einen sehr hohen Stellenwert. Daher müssen wir in der Regel auch solche Äußerungen aushalten, die uns nicht gefallen. Das gilt selbst für überspitzte oder gar polemische Kritik. Allerdings gibt es Grenzen. Wenn ohne erkennbaren Sachbezug nur noch die Herabwürdigung einer Person im Vordergrund der Äußerung steht, ist die Grenze zur sogenannten Schmähkritik überschritten. Eine Abmahnung oder sogar ein gerichtliches Verbot können die Folge sein. Es kann in solchen Fällen auch zu Strafverfahren z.B. wegen Beleidigung oder Verleumdung und somit zu Geld- und Gefängnisstrafen für den Äußernden kommen. Schließlich gibt es noch ein paar weiterer Äußerungen, die unter Strafandrohung stehen. Beispiele sind die Volksverhetzung, unter die auch die Leugnung des Holocausts fällt, oder die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen. Wegen Letzterem wurde vor kurzem der AfD-Politiker Björn Höcke vom Landgericht Halle zu einer Geldstrafe in fünfstelliger Höhe verurteilt. Fazit: Man darf in Deutschland wirklich viel öffentlich sagen und schreiben. Aber wenn es gegen den Kern der Menschenwürde geht, reagieren Rechtsordnung und Gerichte allergisch.“
Schweigen als Gefahr
Und hier sind wir bei einem weiteren Punkt, der Hassrede so gefährlich macht. Es geht nicht nur um die psychischen Folgen, sondern auch um gesellschaftliche. Prof. Dr. Thomas Bippes: „Gesellschaftlich schwierig wird es dann, wenn sich Menschen aus Angst vor Verbalattacken aus den Demokratischen Diskursen zurückziehen. Hate Speech als Gefahr für die Demokratie? Diese Frage würde ich mit einem klaren Ja beantworten.“
Und damit das nicht passiert, gilt es, klar zu kommunizieren. Sprechen wir über Hassrede. Über den Angriff, die Auswirkungen, das persönliche Empfinden. Es gibt Anlaufstellen, die Opfern dabei helfen, sich gegen Hate Speech zu wehren. Erste Anlaufstelle kann hier zum Beispiel die Telefonseelsorge (Tel.: 0800 111 0 111) sein.