Inklusion statt Integration
Vor fast zwanzig Jahren wurde der 3. Dezember von der UN als "Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung" ausgerufen. 2010 stellt der Tag das Thema "Bildung" in den Mittelpunkt der Diskussion - so lautet das Motto "Inklusion - Mein Menschenrecht".
Anders als bei der Integration werden die Kinder bei einer Inklusion nicht einfach nur ins bestehende Schulsystem aufgenommen. Vielmehr richten sich die Schulen nach den Bedürfnissen der Kinder. "Dies erfordert bei Kindern mit schweren und mehrfachen Behinderungen mehr Aufwand und Fachkompetenz, weshalb sie leider viel zu oft unberücksichtigt bleiben", wie Gerhard Grunick, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Leben pur, betont. Deutschland verpflichtete sich jedoch 2009 im Rahmen der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu schaffen.
Das System sollte sich den Bedürfnissen der Schüler anpassen - nicht umgekehrt
Schulen und die Gesellschaft müssen umdenken, fordert die Stiftung Leben pur: Weg vom leistungsorientierten System, in das sich die Schüler fügen müssen, hin zum lernzieldifferenten Unterricht, in dem jeder einzelne Schüler individuell gefördert wird. Jeder Schüler hat sein eigenes Lernziel, worauf er zusammen mit dem Lehrer hinarbeitet. Dies erfordert allerdings kleinere Klassenstärken und ein sogenanntes Co-Teaching, bei dem den Lehrern ein Sonderpädagoge zur Seite gestellt wird. Erfolgreich angewendet wird dieses System bereits in den skandinavischen Ländern, die immer wieder Spitzenpositionen in den ländervergleichenden Schulleistungsstudien PISA belegen. Das Argument, nichtbehinderte Kinder würden nicht genug gefördert, ist nach Ansicht von Leben pur haltlos, denn von individueller Förderung profitiere jedes einzelne Kind.
Mehr Lebenserfahrung für alle teilnehmenden Kinder
Für Kinder mit schweren und mehrfachen Behinderungen ist ein inklusiver Unterricht aus einem weiteren Grund besonders erstrebenswert: Sie können soziale Kontakte in ihrer Umgebung knüpfen, da Mitschüler auch in der Nachbarschaft wohnen. Sonderschulen haben wegen ihrer speziellen Ausrichtung dagegen ein weit größeres Einzugsgebiet. Die Kinder erfahren in inklusiven Schulen viel mehr Anregungen und Eindrücke durch ihre nicht behinderten Mitschüler und die Umgebung und haben dadurch mehr Chancen, sich besser zu entwickeln.
Gerhard Grunick von Leben pur nennt ein Beispiel: "Eine 21 jährige Frau besuchte während ihrer Kindheit aufgrund des starken Engagements ihrer Eltern keine Sonderschule. Heute bringt sie ihre dabei gewonnenen Fähigkeiten und Erfahrungen in einer Kindertagesstätte und einem Altenheim ein". Studien haben gezeigt, dass nichtbehinderte Kinder ebenfalls viel von inklusiven Klassen profitieren. Die soziale Kompetenz und auch die Persönlichkeit der Kinder entwickeln sich positiver in gemischten Klassen. Angst- und Hemmschwellen werden so abgebaut oder entstehen erst gar nicht. Die Kinder sind offener, nicht nur gegenüber Menschen mit Behinderung, und erfahren die Gesellschaft nicht als ein System, in dem mehrere homogene Gruppen nebeneinander her leben, sondern sehen die Unterschiede als Bereicherung. Der Horizont aller Beteiligten, auch der der jeweiligen Eltern, wird erweitert.
Zunächst nur eine Zukunftsvision
In einigen Bundesländern wie zum Beispiel Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt gibt es bereits Schulen, die alle Schüler - egal ob behindert oder nicht - gemeinsam unterrichten. Andere Länder wie Bayern sind in dieser Entwicklung noch nicht so weit. "Uns ist bewusst, dass sich die Situation in der Bildung nicht von heute auf morgen verändern lässt. Hier liegt noch ein weiter Weg vor uns, der die Reise aber in jedem Fall wert ist", so Gerhard Grunick.
Weitere Informationen zur Stiftung Leben pur, Termine für Workshops und Tagungen unter www.stiftung-leben-pur.de.