Bis Ende 1946 seien 600 000 Deutsche aus Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien im Südwesten Deutschlands gestrandet, sagte Zalder. „Meine Mutter und ihre Eltern kamen aus Reichenberg im offenen Viehwagon am 26. Mai 1946 im Lager
Malmsheim an.“ Um die Not in der Fremde zu lindern, sei Hilfe nötig gewesen. Doch wegen des Koalitionsverbots seien ab Ende 1945 zunächst nur soziale und kirchliche Hilfsstellen für Neuburger entstanden. Nach dem Ende des Koalitionsverbots habe sich im Juli 1948 die Stuttgarter Kreisgruppe konstituiert. Am 29. Juli 1949 sei in der Stuttgarter Gastwirtschaft Paulaner die SL-Landesgruppe Württemberg-Baden gegründet worden. Deren Landesobmann sei der Karlsbader Freiherr von Stein gewesen.
Südbaden und Südwürttemberg, wo sich die französischen Besatzer zuvor geweigert hatten, Vertriebene aufzunehmen, habe sich 1949 geöffnet. „So formierte sicham 1. Mai 1950 in Sigmaringen die SL-Landesgruppe Südwürttemberg-Hohenzollernmit Obmann Hubert Lux-Dobischwald. Wenig später wurde in Freiburg die SL-Landesgruppe Südbaden mit Obmann Karl Pache gegründet.“ Zwei Tage nach der Gründung des Landes Baden-Württemberg sei am 27. April 1952 die Satzung der SL-Landesgruppe Baden-Württemberg verabschiedet worden. „Landesobmännerwaren Hans Matjatko, Adolf Hasenohrl, Helmut Haun, Werner Nowak und ist Klaus Hoffmann.“
Dass die Sudetendeutschen nicht zum sozialen Sprengstoff geworden seien, sei das Verdienst ihrer Vorsitzenden wie Wenzel Jaksch, Rudolf Lodgman von Auen oder Hans Schütz. Zalder erinnerte an die Eichstadter Erklärung von 1949 sowie an die Detmolder Erklärung, das Wiesbadener Abkommen und die Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950. Alles Dokumente der Friedensbereitschaft in einem vereinten Europa. In der Landesverfassung stehe: „Das Volk von Baden-Württemberg bekennt sich darüber hinaus zu dem unveräußerlichen Recht auf die Heimat.“
Das Land habe 27 Patenschaften über sudetendeutsche Orte, 24 sudetendeutsche Einrichtungen, Heimatstuben und Archive. Wichtig ist Zalder die Zukunft: „Wer erleben mochte, dass Edvard Benešs Unrechtsdekrete fallen, braucht viele und starke Freunde in Prag. Mit den Unrechtsdekreten im Rucksack kann man langfristig nicht gleichberechtigt am Tisch der friedliebenden Nationen Europas sitzen.“
Zu Oberbürgermeister Frank Nopper sagte er: „Danke, dass die Stadt vor wenigen Tagen am Brunner Friedensmarsch ein Zeichen setzte und mit vielen sudetendeutschen Landsleuten vor Ort war, um der Opfer zu gedenken, tschechischer wie deutscher Opfer von Gewalt und Hass.“
„1952 gab es drei wichtige Ereignisse in und für Stuttgart“, sagte Oberbürgermeister Frank Nopper. Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und Baden hatten sich zu Baden-Württemberg vereinigt. Der VfB Stuttgart sei zum zweiten Mal deutscher Fußballmeister geworden. Und im April sei die SL-Landesgruppe gegründet worden.
Auch Nopper erwähnte Stuttgart als historischen Schauplatz wegen der Charta der Heimatvertriebenen. Dann skizzierte er den Wandel der Haltung zur Geschichte der Vertriebenen. Lange sei sie von Verdrängen und Vergessen geprägt gewesen. Erst in jüngerer Zeit habe sich das geändert. Ein Beispiel sei der aus Eger vertriebene SPD-Politiker Peter Glotz (1939–2005) mit seinem 2003 erschienen Buch „Die Vertreibung – Böhmen als Lehrstuck“. Ebenso erfreulich sei der tschechische Gesinnungswandel, wie er sich in dem Versöhnungsfestival „Meeting Brno“ manifestiere. Im Übrigen sei Brunn seit 1989 Partnerstadt von Stuttgart. Nichtsdestotrotz warte noch viel Arbeit auf die SL hinsichtlich Versöhnung und Völkerverständigung.
Herbert Hellstern, Ministerialdirigent a. D., überbrachte die Glückwunsche von Thomas Strobl, Stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister. Die Landsmannschaft habe, zitierte Hellstern Mathias Beer, beigetragen, die Last desVerlustes und die Herausforderung des Neuanfangs zu meistern. Das Zusammensein mit Landsleuten habe Halt und Orientierung in einer aus den Fugen geratenen Welt geboten. Auch Hellstern schilderte den Meinungswandel. Willy Brandt, Herbert Wehner und Erich Ollenhauer hatten folgendes Telegramm zum Schlesiertreffen 1963 gesandt: „Verzicht ist Verrat, das Recht auf Heimat lässt sich nicht für ein Linsengericht verhökern. Das Kreuz der Vertreibung muss das ganzeVolk mittragen helfen.“ Diese Solidarität sei Ende der 1960er Jahre verschwunden. Die Vertriebenen erscheinten als nationalistische Revanchisten. Peter Glotz habe gefragt: „Warum glaubt man uns nicht?“ Richard von Weizäcker habe gesagt: „Die
Heimatliebe eines Vertriebenen ist kein Revanchismus.“
In die Zukunft gerichtet sagte Hellstern: „Die Erlebniskultur weicht der Erinnerungskultur. Wer wenn nicht die Landsmannschaft muss die Erinnerung an das Kulturgut im Bewusstsein des ganzen deutschen Volkes und des Auslandes halten. Wer wenn nicht die Landsmannschaft muss sich in der Pflicht sehen, Verständigung und Versöhnung über das bisher Erreichte weiterzufuhren?“ Und er zitierte einen Verbliebenen: „Es kommt nicht auf das Geld an. Wichtig ist, das Ihr kommt und hier sichtbar wird, Deutschland sorgt sich um die deutsche Minderheit.“
Festredner Bernd Posselt dankte zunächst dem langjährigen Landesobmann Werner Nowak. Der habe, obwohl die Familie Schreckliches habe erleiden müssen, Maßgebliches geleistet und dank seiner Sprachkenntnisse unermüdlich Brücken geschlagen. Dann ließ er den Sudetendeutschen Tag in Hof Revue passieren. Dort habe die SL mit Klaus Iohannis und Wolodymyjr Selenski zwei Staatspräsidenten geehrt. Auch Pavel Bělobradek, ehemaliger Minister und KDU-ČSL- Chef, sei gekommen und habe gesprochen. Die Tschechische Nationalhymne, die zum ersten Mal auf einem Sudetendeutschen Tag gespielt worden sei, beginne mit der Frage: „Wo ist meine Heimat?“ Diese Frage habe nichts von ihrer Bedeutung verloren. Barbara Coudenhove-Kalergi, die Nichte des Paneuropa-Gründers Richard Coudenhove-Kalergi, sei als junge Frau äußerst links und gegen ihren Onkel gewesen. In ihrem 2013 erschienen Buch „Zuhause ist überall“ setze sie sich allerdings tiefgründig mit ihrer Heimat, dem Verlust der Heimat und dem Ankommen in der Fremde auseinander.
Das Schicksal seiner Familie, so Posselt, hätte auch anders verlaufen können. Sein Vater sei nach Kriegsgefangenschaft bei den Amerikanern 1946 in die US-amerikanische Besatzungszone nach Würzburg entlassen worden. Im nahen Veitshöchheim habe er bei einem Bäcker eine Unterkunft bekommen. Doch er habe keine Ahnung gehabt, wo seine Familie gestrandet sei.
Nun habe er in der zerstörten Würzburger Universität studiert. Jeden Morgen sei er auf einem Pritschenwagen von Veitshochheim nach Würzburg gefahren. „Da sieht er auf einem entgegenkommenden Pritschenwagen einen Schulkameraden. „Wo sind meine Eltern?“ „In Finsterbergen!“ Und schon waren die Wagen aneinander vorbeigefahren.
Posselts Großeltern waren wie viele Deutsche aus dem Isergebirge in die Sowjetische Besatzungszone vertrieben worden und im thüringischen Finsterbergen gestrandet. Sein Vater arrangierte die Flucht der Großeltern in den Westen.
Viele Millionen anderer Landsleute hätten ohne die Hilfe der SL nicht überlebt, denn die Aufnahme in der Fremde, so Posselt, sei keine Ruhmesgeschichte gewesen. Und wieder hätten wir es mit Flucht und Vertreibung zu tun. Und auch im 21. Jahrhundert habe die SL große Aufgaben.
Jahrhundertelang hätten die Sudetendeutschen in ihren Köpfen und Herzen nach einem Ausgleich mit den Tschechen getrachtet. Zwangsläufig hätten sie den Weg zurück in die Heimat gesucht. Auch wenn Nationalismus auf beiden Seiten Realität gewesen sei. Es habe den 4. Marz 1919 gegeben. Und es habe den Menschheitsverbrecher Adolf Hitler gegeben. Die Vertreibung sei kein Kolateralschaden des Zweiten Weltkriegs gewesen, sondern eine ethnische Säuberung. 1946 habe andernorts bereits der Wiederaufbau begonnen.
„Wir, auch viele Landsleute in Baden-Württemberg, begannen bereits vor dem Fall des Eisernen Vorhangs mit der Annäherung.“ Zu einer gemeinsamen guten Zukunft gehörten ein international kodifiziertes Vertreibungsverbot, ein international kodifiziertes Volksgruppen- und Minderheitenrecht und nicht zuletzt ein internationaler Gerichtshof, der Verstöße sanktioniere. „Wir sind die Wegbereiter der Zukunft Europas.“
Mit einem herzlichen Dank und vielen Gluckwünschen zum 70. Geburtstag enteilte Volksgruppensprecher Bernd Posselt Richtung Geislingen. Dort tagten die Südmährer, und er vertrat Festredner Klaus Hoffmann.
Nadira Hurnaus