Auf welchen Ihrer Sinne könnten Sie nie verzichten? Sehen ist das Wichtigste - lautet die Antwort. Blind zu sein, das Augenlicht zu verlieren, ist für die meisten Menschen eine schreckliche Vorstellung. Anna ist von Geburt an blind. Das selbstbewusste Mädchen ist in einer behüteten Familie aufgewachsen. Die Welt außerhalb der gewohnten Umgebung muß sie sich im wahrsten Sinne des Wortes ertasten. Ihr zu Hause kennt sie in- und auswendig, mittlerweile auch die Schule und Marburg. Doch wie kann man sich Dinge merken, die man nie gesehen hat, sich in Menschen verlieben, weil sie sich gut anfühlen und anhören? Wie funktioniert dieses „Begreifen“ der Umwelt?
150.000 Menschen in Deutschland sind blind, knapp eine Million sehbehindert.
Blinde laufen aus dem Gedächtnis - unterschiedliche Bodenbeläge, Stufen und Wände sind dabei ihre Wegweiser. Das müssen sie üben, immer wieder. Kleine Erfolge und Frustration wechseln sich ab, doch Anna ist sehr neugierig und will lernen. An der Schule hat sie einen Freund, Immanuel. Er konnte als Kind sehen und hat dann sein Augenlicht verloren. Er erinnert sich an Bilder, kann assoziieren und so Größen und Entfernungen besser abschätzen. Immanuel hat schon seit Jahren einen vollständigen Wegplan von Marburg im Kopf und findet sich in der Stadt bestens zurecht – außer, etwas bringt seinen inneren Plan durcheinander, z.B. eine Baustelle. Dann wird der gewohnte Schulweg für den 18-Jährigen zum Hindernislauf.
Anders als Anna und Immanuel hat Ricarda noch ein Restsehvermögen von ca. zwei Prozent: Durch eine Erbkrankheit bedingt, ist ihre Welt nicht nur unscharf, sondern auch schwarz-weiß. Die zwei Prozent reichen zum Bücherlesen und Fernsehschauen, aber einen Führerschein wird die lebenslustige 17-Jährige nie machen können. Und beim Shopping braucht sie die Hilfe ihrer Freundin Katharina, die mit immerhin zehnprozentiger Sehfähigkeit auch alle Farben der Kleider und Accessoires erkennen kann, die Ricarda aussucht. Katharina war vor ihrem Wechsel nach Marburg sogar für ein Jahr auf einer Regelschule. "Das war aber schwierig, weil fast alles an die Tafel geschrieben wurde", erzählt sie. An der Blindenstudienanstalt in Marburg hat sie diese Probleme nicht. Egal ob blind oder sehbehindert – jeder Schüler hat einen individuell auf seine Behinderung zugeschnittenen Arbeitsplatz.