Die Oper Fedra fällt in die Zeit des musikalischen Übergangs. Musikhistorisch betrachtet bildet der seinerzeit wichtigste italienische Komponist den „Brückenkopf“ für die Oper des neunzehnten Jahrhunderts. Er zeigt noch Ansätze von Mozartklängen und gibt gleichzeitig den Kompositionsstil der großen italienischen Belcantokomponisten und auch für Verdi vor. So erstaunt es nicht, dass sich eine Abschrift von Fedra im Besitz von Giuseppe Verdi befand. Mayr war für die Komponisten seiner Zeit und den direkt auf ihn folgenden ein großes Vorbild. Die Braunschweiger Aufführung zeigt, warum das so war und macht nachdenklich, warum dieser große Komponist in Vergessenheit geriet.
Dem Dirigenten Gerd Schaller gelang es mit dem vorzüglich musizierenden Staatsorchester Braunschweig, die seit 183 Jahren toten Noten wieder zum Klingen und Leben zu bringen. Voller Wucht, Anmut und Reife zeigte das in allen Gruppen bestens - aber manchmal für die Sänger undurchdringbar - aufspielende Staatsorchester, dass Mayrs Musik viel zu lange ungespielt blieb. Stets hatte der Dirigent, der zum Dirigenten des Jahres 2005 gewählt wurde und seit vielen Jahren mit dem Braunschweiger Staatstheater als erster Gastdirigent verbunden ist, die Fäden in der Hand. Wackler zwischen Orchestergraben und Bühne blieben so weitgehend aus. Die Arien waren so klangschön, erregend und orchestral voller Atmosphäre untermalt, dass man sich leicht vorstellen kann, dass sie in Mailand viel gesungene Ohrwürmer waren – vermutlich so bekannt wie heute „La Donna é Mobile“ aus Verdis Rigoletto.
Das Libretto der Oper entstammt der griechischen Mythologie: Es ist ein großartiges Drama um Lügen, Intrigen, unerwiderte Liebe und Leidenschaft, die Urgewalten der Natur sowie die zerstörerische Macht der Gefühle und kommt nicht ohne Götter, Selbstmord und Mord aus.
Zusammengefasst vertonte Mayr die Geschichte des Königspaares Fedra und Theseus. Dessen Sohn aus erster Ehe Hippolytos wird von Fedra begehrt. Hippolytos aber ist in Aricia heimlich verliebt und vergeben. Damit nimmt das Drama seinen Lauf und die Dienerin der Fedra, Fedra selbst und Hippolytos sterben.
Die ehemalige Operndirektorin des Staatstheaters Kerstin Maria Pöhler hatte die komplizierte Aufgabe, das Werk für die Bühne zu interpretieren. Ihr war jedoch weniger Erfolg beschieden als dem Dirigenten. Die Umsetzung eines griechisch mythologischen Librettos ist kompliziert. In einer zeitlich nicht gebundenen Darstellung führte sie Chor und Solisten nachvollziehbar. Chordirektor Georg Menskes studierte den Chor hervorragend ein und die Choristen bewältigten ihre schwierige Aufgabe imponierend. Die modernen Kostüme von Dietlind Konold machten die Handlung nicht verständlicher: moderne Kostüme inmitten einer antiken Geschichte wirken hier unverhältnismäßig. Das Bühnenbild von Frank Fellmann dominierte ein hydraulischer Druidenbaum, der etwas platt die Handlungsabläufe durch verschiedene Positionierungen verdeutlichen sollte. Nicht wirklich tragisch war, dass Hippolytos zum Schluss jesusgleich im Druidenbaum hing, anstatt dem Libretto folgend geschleift zu werden. Weniger nachvollziehbar war jedoch die für Regisseurin Pöhler übliche Symbolüberladung. Die hervorragenden Darsteller wären sehr wohl in der Lage gewesen, darauf zu verzichten. Trotzdem konnte Pöhler die schrecklich schöne Geschichte von Königin Fedra deutlich machen.
Den Sängern ist höchster Respekt zu zollen, denn ihre Rollen sind schwer singbar. Zudem gibt es keine Vorbilder oder auch nur Anhaltspunkte auf Tonträgern. Fedra erfordert einen lyrisch-dramatischen (Mezzo)Sopran mit voll klingender Höhe und Tiefe. Die italienische Sopranistin Capucine Chiaudani, die schon mehrfach am Staatstheater gastierte, verfügt genau über diese Stimme und bringt eine geläufige Gurgel mit, die Mayrs Koloraturen erfordert. Nicht umsonst wurde sie vom Publikum wie eine Primadonna umjubelt. Ihren Durchbruch am Staatstheater Braunschweig erlebte die junge Sopranistin Rebecca Nelsen als Hippolytos. Ihr beweglicher heller Sopran kennt in den Koloraturen keine Grenzen und liebt den Belcanto. Ihr Organ konnte das Braunschweiger Haus ausfüllen und im Gegensatz zu Chiaudani zeigte sie keine Registerbrüche. Mit Rebecca Nelsen wächst ein lyrischer Sopran von Format mit ausgesprochener Koloraturgeläufigkeit heran, der eine enorme Bühnenpräsenz aufweist. Der mächtige aber bewegliche Tenor von Tomasz Zagorski ist für einen König rollendeckend. Seine große Stimme machte aber auch in den komplizierten Belcantopassagen, Koloraturen und der Extremhöhe Eindruck. Er machte die Tragödie lebendig und gefiel auch in den Parlandi. Der junge Bassist Dae-Bum Lee zeigte eine große warme Stimme, war jedoch im Gegensatz zu Fedra, Hippolytos und Theseus schauspielerisch blass. Unauffällig ergänzten Jörn Lindemann (Filokles) und Hyo-Jin Shin (Atide) das Ensemble.
Es bleibt zu hoffen, dass sich nach diesem triumphalen Erfolg viele Theater dem dramatischen Werk annehmen und das Braunschweiger Staatstheater zukünftig in Oper und Konzert das zu Unrecht vergessene, weil beeindruckende und musikhistorisch Akzente setzende Werk von Johann Simon Mayr zu pflegen beginnt. Fedra macht hörbar, dass in Mayrs Nachlass viele Werke schlummern, die endlich gehört werden müssen. Sein Schüler Donizetti und seine Bewunderer wie Verdi würden nicht verstehen, dass die Werke von Johann Simon Mayr heute nicht mehr aufgeführt werden. Das gilt es nach der Ausgrabung der Oper Fedra am Staatstheater Braunschweig zu ändern!
Weitere Informationen www.staatstheater-braunschweig.de, www.simon-mayr.de
Kritiker: Dipl-Päd. Almut Carlitscheck-Müller und Sven-David Müller, Journalistenbüro, Wielandstraße 3, 10625 Berlin
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