Der rund einstündige Schauspielmonolog von Anna Katharina Hahn "Die letzte Stufe" beschreibt die Situation einer alten Frau, die ihr Haus verlassen, alle Erinnerungsstücke zurücklassen und in ein Zimmer im Altersheim ziehen soll. Getragen von der aufwühlenden Musik der beiden Russen wird deren konkrete Geschichte zu einer Reise durch das vergangene Jahrhundert, dessen wichtigste Ereignisse wie in einer überdimensionalen Fotoausstellung die Bühne prägen. Hier ist ein Mensch, der die Erinnerungen an die Katastrophen und Freuden des 20. Jahrhunderts noch in sich trägt.
Die musikalische Leitung hat der Chefdirigent des Württembergischen Kammerorchesters, Ruben Gazarian. Die Idee zu diesem Musiktheaterprojekt stammt von Christian Marten-Molnar, Chefdramaturg und Musiktheaterregisseur am Theater Heilbronn. Er übernimmt auch gemeinsam mit Bühnen- und Kostümbildner Nikolaus Porz die szenische Umsetzung.
Teil I "Die letzte Stufe"
Die Uraufführung von Anna Katharina Hahns Monolog "Die letzte Stufe" eröffnet den Abend, der sich um das existentielle Thema des erfüllten Lebens und des würdigen Alterns dreht. Die Stuttgarter Autorin, die gerade für ihren Debütroman "Kürzere Tage" mit zwei wichtigen Literaturpreisen geehrt wurde, stellt damit erstmals ihre feine Beobachtungsgabe und ihre schöne, bildhafte Sprache der Bühne zur Verfügung.
Es ist der Monolog für eine alte Frau, die auf der letzten Stufe ihres Lebens angekommen ist.
Über 80 Jahre ist sie alt und soll raus aus ihrem Haus, in dem sie seit mehr als 50 Jahren lebt. So jedenfalls wollen es ihre Tochter und der Schwiegersohn. Vernünftig soll sie sein und ins "betreute Wohnen" gehen, einsehen, dass sie es allein nicht mehr schafft. "Nimm die Sachen mit, an denen du am meisten hängst", sagt die Tochter. Aber Lina Eisele hängt mit jeder Faser an jedem Stück in ihrem Haus. Wie nur soll sie sich verabschieden von den Möbeln und Bildern, die mit so vielen Erinnerungen verbunden sind? Den Garten zu verlassen, ist das Schlimmste. Nur vier Topfpflanzen darf sie mitnehmen. 14 Stufen hat die Treppe ihres Hauses. Mittlerweile braucht sie eine halbe Stunde, um diese hinauf zu steigen. Auf der letzten Stufe muss sie sich niedersetzen und innehalten.
Die Grand Dame des Heilbronner Theaters, Ingrid Richter-Wendel, wird Lina Eisele verkörpern, die sich von allem, was sie ausmacht, verabschieden soll. Sie steht stellvertretend für jene Generation, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut hat, die nun die letzten Zeitzeugen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind. Im turbulenten Alltag ihrer Kinder und Enkel werden die "Alten" oft als lästig empfunden und von der Politik als Kostenfaktor eingestuft. Anna Katharina Hahn schrieb übrigens nicht nur den Text. Sie begleitet auch intensiv den Probenprozess mit Schauspielerin Ingrid Richter Wendel.
Teil II und III
Die 14. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch
und "Lieder und Tänze des Todes" von Modest Mussorgsky
Diese konkrete Situation entwickelt sich im zweiten Teil des Abends zu einer musikalisch- szenischen Gedanken- und Gefühlsreise mit Dmitri Schostakowitschs 14. Sinfonie. Einem großen emotional aufwühlenden Werk, das der damals schwerkranke Komponist im Jahre 1969 in Auseinandersetzung mit dem befürchteten nahen Tod schrieb. Isoliert im Krankenhaus, getrieben von der Angst, sein Werk nicht mehr vollenden zu können, arbeitete Schostakowitsch an dieser Sinfonie. Inspiration war ihm dabei ein Gedanke seines Landsmannes und Schriftstellers Nikolai Ostrowski "Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und er muss es so nützen, dass ihn später sinnlos vertane Jahre nicht qualvoll gereuen..."
Die Idee dieses Werkes trug Schostakowitsch seit 1962 in sich. Er orchestrierte damals Mussorgskys "Lieder und Tänze des Todes". Eine Komposition, die er schon immer bewunderte. "Damals dachte ich, daß ein gewisser >Mangel< dieses Werkes seine Kürze sei: im ganzen Zyklus nur vier Lieder. Ob man nicht Mut fassen und versuchen sollte, den Zyklus fortzusetzen", schrieb Schostakowitsch.
Die Idee und das Konzept für den Musiktheaterabend "sinn_spuren", den das Theater Heilbronn in Kooperation mit dem Württembergischen Kammerorchester (WKO) auf die Bühne bringt, stammt von Chefdramaturg Christian Marten-Molnar. Bereits vor zwei Jahren hat er zusammen mit dem WKO einen eindrucksvollen Musiktheaterabend inszeniert, in dessen Zentrum zwei Werke von Arnold Schönberg standen. Für Theater und WKO war damals klar, dass diese für beide Seiten sehr bereichernde Zusammenarbeit fortgesetzt werden soll. Und weil Marten-Molnár ein Bewunderer der Schostakowitsch-Interpretationen von WKO-Chefdirigent Ruben Gazarian ist, dessen CD-Einspielung der Kammersinfonien er gar spektakulär nennt, schlug er vor, die Musik dieses großen Russen ins Zentrum des neuen gemeinsamen Projektes zu stellen. Das Thema von Schostakowitschs 14. Sinfonie - das Altern und die Einsamkeit alter Menschen beschäftigt ihn seit vielen Jahren
Und dann fiel ihm jenes Buch von Anna Katharina Hahn in die Hände und ließ ihn nicht mehr los: "Kürzere Tage", in dem ihn besonders die Figur der alten Frau Luise berührte. Um so schöner, dass die Autorin sofort ihre Bereitschaft zur Mitarbeit erklärte. Ihr Monolog entstand in der Auseinandersetzung mit der Musik und den Texten von Schostakowitschs 14. Sinfonie. Diese Sinfonie sprengt alle Grenzen des Genres, eigentlich ist sie ein Oratorium aus 11 Gesängen für Sopran und Bass, dem 11 Gedichte von Lorca, Apollinaire, Rilke und Küchelbecker zugrunde liegen. "Elf Miniatur-Opern, die danach schreien, auf die Bühne gebracht zu werden."
Außerdem gelang es, den Komponisten und Arrangeur Andreas Tarkmann mit ins Boot zu holen, der die "Lieder und Tänze des Todes" von Mussorgsky für das WKO arangiert. Mit Ksenija Lukic als Sopran kommt jene Sängerin wieder nach Heilbronn, die bereits beim Schönberg-Abend überzeugen konnte. Und mit dem russischen Bass Vladimir Miakotine wurde ein meisterhafter Schostakowitsch- und Mussorgsky-Interpret gewonnen. Sopran und Bass verkörpern in dieser Inszenierung zwei Seiten der Persönlichkeit von Lina Eisele. Die Sängerin steht für das Lebensprinzip, für das Festhalten an den schönen Erinnerungen und das Hoffen, dass das Leben auch auf der letzten Stufe einiges für sie bereit hält. Der Bass steht für die Todessehnsucht und den Gedanken an Selbstmord, der sich immer wieder in ihr Bewusstsein drängt.
Hinzu kommen Fotografien der Ausstellung "Neue und alte Bilder vom Altern", die als Projektionen auf der Bühne gezeigt werden. Diese Ausstellung wurde von der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaft, unterstützt. Im Rahmen der Akademiegruppe "Altern in Deutschland" sind diese Bilder von ca. 80 Fotografen entstanden, die zum Nachdenken und Diskutieren darüber anregen, wie das Altern in Zukunft aussehen wird. Ausstellung und Wettbewerb stehen unter der Schirmherrschaft der Bundesministerin für Bildung und Forschung Prof. Dr. Annette Schavan. Nach Braunschweig, Stuttgart und München geht diese Ausstellung nun nach Berlin, wo sie am 18. Januar mit einer Preisverleihung eröffnet wird.