Zum Inhalt
Als jener Schriftsteller, der sich als Sachbuchautor durchschlägt, sie zum ersten Mal in der Chicago Public Library sieht, ist es um seine Konzentration geschehen. Immer wieder muss er die junge Frau ansehen. Dabei soll er doch an seinem Buch über amerikanische Luxuseisenbahnen schreiben. Das Mädchen erwidert seine Blicke. Ihre Augen faszinieren ihn. Als sie den Saal verlässt, folgt er ihr, setzt sich neben sie. Die beiden trinken Kaffee, reden über Kunst und Politik. Agnes, so stellt sie sich vor, schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit in Physik, spielt in einen Streichquartett und hat ansonsten keine Freunde. Genauso wenig wie er.
Von nun an treffen sie sich jeden Tag, werden ein Paar. Er, der etliche Jahre älter ist als sie, ist ihr erster Mann. Nach vielen gescheiterten Beziehungen hat er eigentlich nicht das Bedürfnis nach einer Partnerschaft. Aber er kann sich ihr nicht entziehen. Die Arbeit an seinem Eisenbahnbuch legt er auf Eis. Stattdessen erinnert er sich an sein eigentliches Schaffen, seine literarischen Versuche, die jedoch niemand lesen wollte. Er erzählt Agnes davon, und sie möchte, dass er eine Geschichte verfasst, eine Liebesgeschichte über sie beide. Er weiß nicht recht, vielleicht wären sie beide enttäuscht. Doch er beginnt zu schreiben und formt Agnes, von der er nicht wirklich viel weiß, nach seinem Bild. Immer wieder fordert er Agnes auf, mit ihm im gemeinsamen Spiel die Handlung weiterzuentwickeln. Realität und Fiktion verschmelzen auf merkwürdige Weise miteinander. Mehr und mehr gewinnt seine Geschichte Oberhand über ihr Leben.
"Glück malt man mit Punkten. Unglück mit Strichen...", sagt Agnes zu ihm. "Du musst, wenn du unser Glück beschreiben willst, ganz viele kleine Punkte machen ... Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen."
Leerstellen lassen Assoziationsspielräume
„Zur Interpretation von „Agnes“ kann und will ich mich nicht äußern“, schrieb Peter Stamm 2012 in einem Brief an Schüler und Lehrer in Baden-Württemberg, die das Buch bis heute als Sternchenthema im Literaturunterricht behandeln. „Es bietet viele Interpretationsmöglichkeiten, keine davon ist richtig, falsch sind allenfalls jene, … die für sich in Anspruch nehmen, die einzig richtige zu sein. … Nicht einmal die Frage, ob Agnes am Ende des Buches tot ist oder lebt, lässt sich eindeutig beantworten. Weder von mir noch von ihnen. Das soll Sie nicht daran hindern, darüber nachzudenken.“
Regisseur Michael Blumenthal, der in Heilbronn in den letzten drei Jahren sehr erfolgreich die Weihnachtsmärchen inszenierte, hat zusammen mit Chefdramaturg Andreas Frane die Stückfassung erstellt. Er mag den Roman mit seiner knappen, lakonischen Sprache, die sich auch im Stück wiederfinden wird. Ihn interessieren vor allem die Leerstellen und die daraus resultierenden „Resonanzräume“, die Peter Stamm dem Leser (Zuschauer) lässt. Er hat gemeinsam mit Ausstatterin Ulrike Melnik nach Bildern, Stimmungen und Räumen gesucht, und gleichzeitig den Interpretationsspielraum offen gelassen, damit sich die Zuschauer aktiv mit einbringen können.
Mit „Agnes“ verstößt das Theater Heilbronn zwar gegen das Credo für das Komödienhaus – „Es wird gezeigt, was draufsteht“. Aber diese intensive und bewegende moderne Liebes- und Beziehungsgeschichte um Sehnsucht und Entfremdung und um die verstörende Macht, die Literatur über das Leben haben kann, ist durchaus ein Stoff für großes Publikum.
Premiere am 29. September, 20 Uhr, Komödienhaus
Agnes
Schauspiel nach dem Roman von Peter Stamm
Bühnenfassung Michael Blumenthal und Andreas Frane
Regie: Michael Blumenthal
Ausstattung: Ulrike Melnik
Video: Nikolai Stiefvater
Dramaturgie: Andreas Frane
Es spielen: Helene Aderhold (Agnes/Louise); Nils Brück (Er)