Für Villa Dolorosa hat die Autorin ganz unverhohlen auf Anton Tschechows „Drei Schwestern“ zurückgegriffen und sich vielen Details der Figurenkonstellationen bedient. Allerdings holt sie dieses große Drama ins Heute und macht daraus ein komödiantisches Destillat.
Im Zentrum stehen auch bei Rebekka Kricheldorf drei Schwestern: Olga ist Ende 30 und von ihrer Arbeit als Gymnasiallehrerin völlig genervt. Irina studiert im 25. Semester, derzeit ist sie in Philosophie eingeschrieben, aber eigentlich bleibt sie Mittags im Bett und denkt über das Leben nach. Mascha, die jüngste, hat mit 20 Jahren geheiratet. Seither sitzt sie zu Hause und streicht die Vorhänge glatt. Außerdem gibt es noch den Bruder Andrej, der seit Ewigkeiten an einem Konzept für seinen Roman bastelt. Bis auf Mascha, die mit ihrem Gesundheitssocken tragenden Mann im Haus gegenüber wohnt, leben die Geschwister in der von den Eltern geerbten Villa. Von der blättert langsam die ehemals prächtige Fassade und weil nur Olga erwerbstätig ist, schmilzt das elterliche Erbe. Eigentlich müssten alle vier dringend ihr Leben ändern. Nur wie? Vielleicht arbeiten? Doch wie soll man sich in die Niederungen des Alltags begeben, wenn man auf alles, was nach einem „normalen“ Leben aussieht, mit Arroganz herabschaut? Vor nichts haben sie so sehr Furcht als sich „On the Highway to Mittelmaß“ zu befinden. Und so lamentieren die Geschwister auch an diesem Tag, dem 28. Geburtstag von Irina. Wie schön könnte das Leben sein, wenn man nur… Ja was bloß? Unterdessen nistet sich Andrejs Freundin Janine, ausgerechnet ein Mädchen aus der Unterschicht, auf das die Schwestern mit Verachtung schauen, bei ihnen ein und beansprucht mehr und mehr Raum. Und Georg, Leiter einer Verpackungsfirma, der in seinem Leben alles werden wollte, nur nicht Leiter einer Verpackungsfirma, flieht in die Villa vor der Bedeutungslosigkeit seines eigene Lebens.
Dreimal gewährt Rebekka Kricheldorf einen Einblick in die „Villa Dolorosa“ jeweils zu den „missratenen Geburtstagen“ von Irina. Die Geschwister sind sehr zeitgenössische Vertreter einer wohlstandsverwöhnten Generation. Sie haben zwar sehr hohe Ansprüche, aber keinerlei Antriebskraft. Ihnen stehen alle Wege offen, aber keinen schlagen sie ein. Über die realen Vorbilder von Irina oder Andrej wird mittlerweile viel geschrieben. Man nennt sie „Generation Praktikum“, „Generation Google“ oder auch „Generation Umhängetasche“, jene Mittzwanziger bis Mittvierziger, deren Adoleszenz nie zu Ende zu sein scheint. Sie sind gut ausgebildet, werden aber nie erwachsen. Sie drücken sich davor, eine Wohnung einzurichten, den Berufsweg zu planen oder Kinder zu bekommen. Denn all das bedeutet Stress und gilt ihnen als spießig.
Intendant Axel Vornam inszeniert das Stück über eine Generation, der alle Wege offen stehen, die aber nicht den Mumm hat, auch nur einen einzuschlagen.
Ausstatter Tom Musch verwandelt die Bühne des Großen Hauses in die Zimmerfluchten einer alten Villa mit dem morbiden Charme der bröckelnden Pracht. Susan Ihlenfeld als Irina, Julia Apfelthaler als Mascha und Sylvia Bretschneider als Olga sind die drei Schwestern von heute.
Rebekka Kricheldorf
1974 in Freiburg i. Br. geboren, studierte sie 1995 – 1997 Romanistik an der Humboldt-Universität Berlin und 1998 – 2002 »Szenisches Schreiben« an der Hochschule der Künste Berlin. Seit 2002 schreibt sie im Auftrag von Stadt- und Staatstheatern Stücke und neue Übersetzungen englischsprachiger Dramatik. Für ihre Stücke, die alle bei Gustav Kiepenheuer verlegt sind, erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und Arbeitsstipendien. Von Januar bis Juni 2004 war sie Hausautorin am Nationaltheater Mannheim. Im Dezember 2007 schrieb sie als Auftragswerk für das Theaterhaus Jena in Kooperation mit neubau / Staatsschauspiel Dresden »Neues Glück mit totem Model«. Für das Theaterhaus Jena schrieb sie »VILLA DOLOROSA. Drei missratene Geburtstage frei nach Tschechows "Drei Schwestern". Die Uraufführungsinszenierung wurde zu den Autorentheatertagen 2010 ans Deutsche Theater Berlin eingeladen. Seit September 2009 ist sie Dramaturgin und Hausautorin am Theaterhaus Jena.
Stücke:
- Gotham City I – das Stück. Eine Stadt sucht ihren Helden, Theaterhaus Jena, UA: 14.10.2010
- Robert Redfords Hände selig, Auftragsarbeit für das Staatstheater Kassel, UA: 03.10.2010
- VILLA DOLOROSA. Drei missratene Geburtstage frei nach Tschechows »Drei Schwestern« von Rebekka Kricheldorf, Theaterhaus Jena, UA: 15.10.2009, eingeladen zu den Autorentheatertagen 2010 an Deutsche Theater Berlin
- Mechanische Tiere, Einakter für das Stückefestival »Verlorene Paradiese«, Stadttheater Bern, UA: 16.05.2009
- Das Ding aus dem Meer, Auftragsarbeit für das Staatstheater Kassel, UA:13.03.2009
- Der Kopf des Biografen, Auftragsarbeit für das Theater Osnabrück, UA:15.01.2009
- Neues Glück mit totem Model, Auftragsarbeit für das Theaterhaus Jena und Staatsschauspiel Dresden, UA: 20.12.2007, neubau / Staatsschauspiel Dresden
- Weiße Teufel von John Webster (The White Devil), Übersetzung im Auftrag des Theaters Bonn, UA: 23.03.2007
- Hotel Disparu, Gemeinschaftsarbeit mit den Regisseuren Erich Sidler und Ingo Kerkhof, UA: 13.09.2006 Theater am Neumarkt, Zürich / 21.09.2006 Sophiensæle Berlin
- Landors Phantomtod, Auftragsarbeit für das Nationaltheater Mannheim,UA: 23.02.2006
- Rosa und Blanca, Auftragsarbeit für das Staatstheater Kassel, UA: 13.01.2006
- Schneckenportrait, UA: 18.09.2005 Theater Osnabrück
- Floreana, Auftragsarbeit für das Theater am Neumarkt, Zürich, UA: 20.05.2004
- Die Ballade vom Nadelbaumkiller, Auftragsarbeit für das StaatstheaterStuttgart, UA: 18.05.2004, eingeladen zu den Mülheimer Theatertagen
- Kriegerfleisch, UA: 24.01.2004, Städtische Bühnen Münster
- Prinzessin Nicoletta, UA: 08.03.2003, Stadttheater Gießen, Schweizer Erstaufführung: 28.05.2003, Theater am Neumarkt, Zürich
- Schade, dass sie eine Hure war von John Ford (»’Tis Pity She´s A Whore«), Übersetzung im Auftrag des Theaters am Neumarkt, Zürich, UA: 28.02.2002
Preise, Auszeichnungen und Stipendien:
- Kasseler Förderpreis für Komische Literatur (Februar 2010)
- Aufenthaltsstipendium auf Schloss Wiepersdorf (April bis Juni 2008)
- Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg (Juni 2008)
- Schiller-Förderpreis des Landes Baden-Württemberg (November 2004)
- Kleist Förderpreis 2003 / Frankfurt (Oder) für KRIEGERFLEISCH
- Verlegerpreis und Preis des Heidelberger Publikums im Wettbewerb des Heidelberger Stückemarktes für »Prinzessin Nicoletta« (Mai 2002), außerdem Lesung auf dem Berliner Stückemarkt
- Aufenthaltsstipendium auf Schloss Wiepersdorf (September/Oktober 2001)
- Einladung zur Göttinger Dramatiker-Werkstatt (Mai/Juni 2001)