Axel Vornam, Intendant des Theaters und Regisseur dieser Inszenierung, entdeckt in der Konstellation dieses Stücks von 1905 viele Parallelen zu heute. „Seit langem ignorieren die gesellschaftlichen Eliten ,die da unten‘ und ihre Sorgen. Jetzt laufen die Abgehängten Pegida hinterher oder wählen AfD und alle tun so, als wären sie erschrocken.“ Das Stück stellt insbesondere die Frage nach der Verantwortung der Intellektuellen für einen offenen Diskurs zur Entwicklung der Gesellschaft, der mit der Klärung der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse beginnen muss. Vornams Inszenierung von „Kinder der Sonne“ kommt jetzt auf die Bühne des Großen Hauses. Premiere ist am 29. April 2017.
Zum Inhalt
Pawel Protassow (Stefan Eichberg) ist Chemiker mit Leib und Seele. Er vergräbt sich in seine Forschungen, die er in seiner Villa anstellt. Die Wirklichkeit blendet er als lästige Randerscheinung aus. Immer noch wird er von seinem alten Kindermädchen Antonowna (Ingrid Richter-Wendel) betreut, die den Haushalt führt. Protassow und seine Frau Jelena (Sabine Unger) leben aneinander vorbei. Sie flüchtet sich in einen Flirt mit dem Maler Dmitrij Wagin (Tobias D. Weber). Die Avancen der reichen Witwe Melanija (Judith Lilly Raab) registriert der Chemiker kaum. Melanijas Bruder, der Tierarzt Boris Tschepurnoi (Oliver Firit), ist ebenfalls ständiger Gast im Haus des Wissenschaftlers und hofft auf sein Glück bei Protassows Schwester Lisa (Stella Goritzki).
Allen gemeinsam ist die Illusion von einem besseren Menschen. In verbalen Schwelgereien malen sie an diesem Gesellschaftsgemälde. Aber der Schlosser Jegor (Felix Defèr) zum Beispiel bekommt in dieser Fiktion von einer schönen Welt keinen Platz. Einzig Lisa stellt die intellektuelle Schönmalerei in Frage. Menschen wie Jegor „hassen euch, weil ihr satt seid. Weil ihr euch entfremdet habt und ihr hartes unmenschliches Dasein ignoriert“, sagt sie. Protassow und Jelena, Wagin und Tschepurnoi indes, haben sich eingerichtet in ihrem Elfenbeinturm und genießen das Gefühl, auf der richtigen Seite geboren, eben »Kinder der Sonne« zu sein.
Unterdessen kauft der Neukapitalist und Hausbesitzer Nasar (Oliver Jaksch) die ganze Stadt auf. Das soziale Elend und die Cholera raffen die Armen und Unwissenden dahin. Sie kennen keinen Schutz dagegen, suchen aber einen Schuldigen an ihrer ausweglosen Situation. Hintergrund der Entstehung von „Kinder der Sonne“
Gorki schrieb »Kinder der Sonne« 1905 im Gefängnis, wo er wegen publizistischer Verurteilung der Ereignisse um den »Blutsonntag« inhaftiert worden war, aber schon bald auf Druck der internationalen Öffentlichkeit wieder freigelassen wurde.
Der als „Blutsonntag“ in die Geschichte eingegangene 9. Januar 1905 begann mit einem friedlichen Marsch von rund 100.000 Arbeitern zum Winterpalais des Zaren in St. Petersburg, wo sie eine Bittschrift übergeben wollten. Darin forderten sie bessere Arbeits- und Lebensbedingungen und Maßnahmen, die ihrem Elend und ihrer Rechtlosigkeit ein Ende setzen sollten. Der Protestzug wurde blutig niedergeschlagen. Soldaten schossen in die unbewaffnete Menschenmenge. Es gab mehrere hundert Tote, Tausende wurden verletzt. In der Folge brachen Arbeiterstreiks und Demonstrationen in ganz Russland aus, es kam zu Anschlägen gegen Grundbesitzer und Industrielle.
Wie Gorkis Notizen und den Akten der Gefängnisleitung über die Erteilung einer Schreiberlaubnis zu entnehmen ist, verfasste er „Kinder der Sonne“ in nur sieben Tagen. Die Idee zu einem Stück über einen Chemiker und über die Diskrepanz zwischen Intellektuellen und Proletariat beschäftigte ihn bereits seit langem in Auseinandersetzung mit den Cholera-Aufständen 1892 an der unteren Wolga. Nach einer Missernte 1891 und dem Ausbruch der Cholera 1892 verloren viele Menschen das Leben. Vom Hunger entkräftet und vom Schrecken der Cholera verängstigt, begann das Volk in einigen Gegenden zu rebellieren und Meutereien zu veranstalten. Die sogenannten Choleraexzesse waren wild und sinnlos in ihren Äußerungen wie in ihren Absichten. Das Volk ließ seine Verzweiflung und Erbitterung vornehmlich an den Gebildeten aus, vor allem an den Ärzten, die es der Volksvergiftung beschuldigte.
Vor diesem Hintergrund thematisierte Gorki seine Enttäuschung über die Ignoranz der Intellektuellen gegenüber einer Gesellschaft, die immer mehr von sozialen Konflikten zerrissen ist und die Haltung der Bildungselite zum „Blutsonntag“. Die Uraufführung fand im Oktober 1905 fast zeitgleich in Petersburg und im Moskauer Künstlertheater (unter Regie Stanislawskis) statt. Die Deutsche Erstaufführung erfolgte 1906 in Max Reinhardts „kleinem Theater“ in Berlin. Gorki sah sich eine Vorstellung in Berlin an und durfte erleben, wie ihn das Publikum stürmisch feierte.
Die heutigen Intellektuellen überlassen das Feld den Populisten
„Wir haben heute selbst das Gefühl in Zeiten eines gesellschaftlichen Umbruchs zu leben“, sagt Regisseur Axel Vornam. Die sozialen Risse werden immer tiefer, gesellschaftliche Errungenschaften scheinen gefährdet zu sein. Das alles schürt diffuse Ängste, bei denjenigen, die nicht mehr verstehen, was passiert, die sich wie in „Kinder der Sonne“ in einer hilflosen unreflektierten Wut gegen das Establishment kanalisieren. Wir erleben dies gegenwärtig bei Anhängern von Pegida und deren Ablegern oder bei Wählern der AfD.
„Die Intellektuellen überlassen das Feld den Populisten, entwickeln eher Verdrängungsstrategien, um nicht selbst handeln zu müssen, sitzen ebenso im Elfenbeinturm und blenden die Realität aus wie Protassow oder Wagin.“
„Die Kluft zwischen Intelligenz und Proletariat mag noch so tief und schwer zu überbrücken sein. Ich hoffe doch, dass ein solcher Brückenschlag gelingt. Er muss von denen ausgehen, die sich vom Proletariat stufenweise zu den Höhen des Wissens erhoben haben. Eine kranke Gesellschaft wird erst dann gesunden, wenn die Quelle des Lichts, der Schönheit und des Wissens für alle offenbar werden.“
Maxim Gorki am 11. März 1906 in einem Interview mit der „Neuen Freien Presse“ aus Anlass seines Besuches der Inszenierung „Kinder der Sonne“ in Berlin