Mutterseelenallein mit dem Verlust
Christine ist 49, als ihre Mutter mit 84 Jahren stirbt. Auch wenn ihr zuvor bewusst war, dass ihnen beiden nur noch eine begrenzte Zeit zur Verfügung stehen würde, erschüttert sie der Tod bis ins Innerste. "Meine Beziehung zu ihr war sehr besonders", erzählt die Hessin. „Und es war der erste Verlust in meinem Leben, den ich ganz nah erleben musste. Ich fühlte mich mutterseelenallein."
Ihr Umfeld wendet sich ab: Trauer, nein danke …
Zu Beginn sind zwar die Menschen in ihrem Umfeld für sie da. Doch schon kurz nach der Beerdigung haben sie nur noch wenig Zeit für Christine. Keine Zeit? Sie gewinnt die bittere Erkenntnis: Freunde, Kollegen, Bekannte wollen gar nicht über Tod und Trauer mit ihr sprechen, verspüren keine Lust, ständig eine verweinte, traurige Person an ihrem Tisch sitzen zu haben. Sie wenden sich sogar von ihr ab.
"Hallo, meine Mutter ist tot, ihr müsst mich trösten"
Christine Stockbrink ist völlig überrascht, hätte mit einer solchen Reaktion nie gerechnet. "Hallo, meine Mutter ist tot", denkt sie. "Ihr müsst mich jetzt trösten, ihr müsst für mich da sein." Doch stattdessen lässt ihr Umfeld auch noch "blöde Sprüche" los. In der Art: Eine Mutter mit 84 hat ihr Leben gelebt, warum bist du denn dann so traurig, der Tod gehört nun mal dazu …
Die Anderen sind hilflos und überfordert
Christine fühlt sich komplett unverstanden. Und merkt: "Mir hilft niemand. Ich bekomme nichts von außen. Wenn ich mir jetzt nicht selber helfe, tut es keiner.“ Erst viel später wird ihr bewusst, dass das wenig solidarische Verhalten der anderen auch Hilflosigkeit war. „Ich habe es allerdings in dieser für mich so schwierigen Lebenssituation persönlich genommen."
Die Wandlung geschieht schleichend
Der Kontakt zu zwei Trauerbegleiterinnen erweist sich als wenig hilfreich. Christine geht durch ein tiefes, dunkles Tal, wie es sehr viele Trauernde kennen. Doch mit der Zeit beginnt sich etwas zu wandeln. Schleichend geschieht das. Da ist kein Aha-Erlebnis, nach dem sich von jetzt auf gleich etwas verändert. Vielmehr empfindet sie immer deutlicher, dass die Lösung nur in ihr selbst zu finden ist. Sie selbst muss aktiv werden.
"Da sind bei mir die Groschen gefallen“
Doch gerade trauernden Menschen fehlt nach einem Schicksalsschlag dieser Antrieb. Sie fühlen sich wie gelähmt, möchten am liebsten nur noch die Bettdecke über den Kopf ziehen und nie mehr auftauchen. Wie also hat sie es geschafft? "Ich habe ganz viel mit mir allein ausgemacht, bin in den Wald gegangen, habe alles rausgebrüllt. Das war schmerzhaft und gleichzeitig sehr befreiend. Da sind bei mir dann die Groschen gefallen: Es ist allerhöchste Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen. Allerhöchste Zeit zu sortieren. Allerhöchste Zeit, nach dir und deinen eigenen Bedürfnissen zu schauen", beschreibt sie ihr Gefühl.
Sie traut sich sogar, ihre langjährige Wohnung zu kündigen. Die Wohnsituation mit viel Lärm und einem wenig vertrauenswürdigen Vermieter passt schon lange nicht mehr in ihr Leben. Ausgerechnet in dieser Situation ihr Zuhause aufzugeben, ist für sie der größte und der mutigste Schritt.
Aufräumen für das Richtige im Leben
Wie haben all diese Erfahrungen ihre Persönlichkeit verändert? „Ich bin härter geworden“, gesteht Christine. „Ich lasse nichts mehr mit mir machen. Wenn ich merke, dass mir Menschen nicht guttun, mich Energie kosten, mich als seelischen Mülleimer benutzen und ich dadurch wieder Trauerschübe bekomme, beende ich den Kontakt." Ihr Fazit: "Manchmal muss man aufräumen, damit Platz für die richtigen Leute ist." Jetzt weiß sie viel genauer, was ihr guttut oder eben nicht guttut.
"Ich gehe nicht in die Opferrolle"
Jennifer Lind, Sterbeamme und Gründerin der Trauerfreund-Vermittlung TrostHelden, kann das nur bestätigen. Sie sagt: „Viele Menschen können durch die Trauer viel besser zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden. Sie sind generell im Leben zielgerichteter und wissen, was sie möchten oder eben nicht möchten. Was jetzt dran ist und was Zeit hat.“
Wenn Christine Stockbrink etwas auf keinen Fall möchte, dann ist es Mitleid. „Ich gehe nicht in die Opferrolle. Was ich möchte, sind Menschen, die mich verstehen und es mit mir gut meinen.“ Deshalb zieht sie auch vor, lieber öfter allein als in schlechter Gesellschaft zu sein.
Dem Bauchgefühl vertrauen
Ohne diesen krassen Verlustschmerz, ohne das Gefühl des völligen Alleingelassenwerdens hätte sie sich so nicht entwickelt. Sie hat eine neue Klarheit gewonnen, schätzt ihr Bauchgefühl als guten Ratgeber. „Ich muss nämlich gar nichts, was ich nicht will – außer gut für mich zu sorgen“, betont sie. Von dieser Haltung sind andere nicht immer begeistert. "Und es ist für einen gutmütigen Menschen wie mich auch gar nicht so einfach. Aber ich habe Riesenfortschritte in dieser Hinsicht gemacht."
Wenn es egal wird, was die Leute denken …
So kann es manchmal vorkommen, dass sie unbequem wird. Wie genau setzt sie ihren Willen dann durch? "Das hängt von der Situation ab. Mal bin ich diplomatisch, etwa am Arbeitsplatz. In anderen Momenten kann ich aber sehr auftrumpfen. Da darf ich mich auch im Ton vergreifen. Mir ist egal, was die Leute denken! Die guten Menschen, die mich mögen, kennen meinen Weg, wissen, wie ich dazu gekommen bin. Sie hören nicht auf, mich gern zu haben, wenn ich mal ein bisschen grummelig bin. Aber ich muss noch lernen, mitunter etwas behutsamer zu sein", sagt sie.
Mut, Stärke, Dankbarkeit
Mittlerweile wohnt Christine Stockbrink mit ihrer Hündin und ihrer Katze in herrlicher Umgebung am Waldrand, schläft viel besser und hat sich mit den passenden Menschen umgeben. Was für Geschenke! "Für mich sind es Geschenke, dass ich fokussierter durch die Trauer geworden bin, besser für mich sorge und spüre, dass ich erfolgreich etwas verändern kann", fasst sie ihre Erfahrung zusammen. "Denn wenn man wohlbedacht etwas wagt, geht es auch positiv weiter. Dieser Mut, dieser Wille, diese Stärke, das Vertrauen in mein Bauchgefühl, die größere Gelassenheit und auch die Dankbarkeit – das sind die guten Dinge, die durch die Trauer ausgelöst worden sind."
"Wir stehen uns regelmäßig zur Seite"
Was ihr zudem geholfen hat: Christine Stockbrink hat bei TrostHelden, dem Online-Portal für Trauerfreundschaften, mehrere gleichgesinnte Trauerfreundinnen gefunden. Durch ein besonderes Computerprogramm bringt TrostHelden genau die Menschen zusammen, die ein ähnliches Schicksal verkraften müssen. Wie zielführend das Konzept ist, hat Christine Stockbrink erlebt.
Austausch mit Gleichgesinnten bei TrostHelden
"Ich persönlich brauche den Austausch mit Menschen, die ebenfalls ihre Mutter verloren haben, nur sie können mich wirklich verstehen. Das ist ein Austausch auf Augenhöhe." Eine der TrostHeldinnen ist sogar eine Freundin geworden. "Wir schreiben uns oft. Sie ist eine liebe, treue Seele. Und so stehen wir uns regelmäßig ein kleines bisschen zur Seite."