Wie können gerade trauernde Menschen das alles verkraften?
Es ist wichtig, darüber mit anderen zu sprechen und sich möglichst nicht zurückzuziehen. Denn dann kann die Angst wirklich die Kehle zuschnüren. Die Kehle und die Seele sind im Hebräischen eins. Du, meine Seele singe … Die Kehle ruft es heraus …
Menschen trauen sich oft nicht, über Angst zu sprechen …
Weil sie sich ihrer Angst fast schämen. Wir leben in einer Leistungs- und Erfolgsgesellschaft. Und wenn jemand aus einer solchen Situation heraus nicht mithalten kann, ist er schnell in eine Ecke gedrängt. Ich würde nie über Trauer hinweggehen. Dieser Satz: Es wird schon wieder, trifft eben oft nicht zu. Es wird erstmal gar nichts wieder.
Durch das Portal Trosthelden, der Vermittlung für Trauerfreund:innen, haben wir viel Kontakt zu Trauernden. Sie sagen: ,Ich habe niemanden, mit dem ich sprechen kann. Niemand hört mir wirklich zu.' Wo ist dann der Rettungsanker für Trauernde, wenn das Gespräch über die Trauer so elementar ist?
Es gibt jetzt ja Portale wie Ihres, bei dem sich Menschen mit einer ähnlichen Erfahrung finden. Das ist sicher ungeheuer hilfreich. Ich persönlich finde in meiner Spiritualität, im Gottesdienst, einen Ort, zu dem ich meine Gefühle mitbringen kann, auch im Gebet. Ich bin Christin. Ich finde, dass ein Gebet einen Gesprächsfaden zu Gott eröffnet. Und dass ich im Gebet Gott anvertrauen kann, was ich sonst sehr oft nicht aussprechen kann.
Was ist mit Menschen, die diese Verbindung zu Gott nicht haben? Wo sind die Menschen, wo sind die Räume, auf Menschen zu treffen, die zuhören können?
Ich würde sagen, diese Menschen gibt es. Und gerade alte Menschen haben oft die Gabe des Zuhörens, die bei uns gar nicht mehr so geachtet ist. Ich habe den Eindruck, dass in anderen Kulturen die Lebenserfahrung der alten Menschen, diese Altersweisheit wesentlich mehr Wertschätzung erfährt. Die älteren Menschen sind es, die Zeit haben, zuzuhören. Weil sie mit ihrer Lebenserfahrung zuhören. Weil sie Verluste kennen, Angst kennen. Wir schieben betagte Menschen sehr oft in Alteneinrichtungen ab, wo sie unter sich bleiben. Aber gerade viele Jüngere brauchten dieses gute Zuhören, diese Zeit und die Lebenserfahrung. Und das müssen wir mehr zusammenbringen.
Wie kann man sie zusammenbringen? Wie schafft man es, dass Senioren als gute Ratgeber und Zuhörer mit all ihrem Wissen wieder mehr gefragt sind?
Mir ist wichtig, dass wir dafür Räume schaffen. Ich denke, dass das die Kirchengemeinden können. Man könnte über Aktionen in den Alteneinrichtungen nachdenken, wieder mehr Besuchsdienste dort einzuführen. Es haben ja beide Seiten etwas davon: die Jüngeren und die Älteren. Und es müsste noch viel mehr geben: Tage der offenen Tür, Begegnungstage, Begegnungsräume. Die alten Menschen haben Zeit. Und diese wird bei uns nicht abgefragt, weil es alles so schnelllebig ist und man glaubt, sie sind nicht wichtig.
Fehlen einfach oft die Verbindungen?
Ja, weil man sich nicht mehr trifft im Alltag. Jeder ist in seiner eigenen Blase und diese Überschneidungen, die es früher in den Großfamilien gab, fehlen.
Ist das in anderen Kulturen anders?
Die asiatischen Kulturen schätzen das Alter mehr. Andererseits sind das auch Kulturen, in denen über Persönliches fast gar nicht geredet wird, soweit ich weiß. In Afrika scheint es teilweise noch anders. Dort habe ich erlebt, dass die Alten als weise gesehen und von den Jungen konsultiert werden.
In welchen Ländern haben Sie das beobachten können?
In Kenia, Simbabwe und Tansania. Ich erinnere mich an einen Marktplatz in Kenia. Dort saßen die Menschen im Kreis zusammen und hörten zu. Zeit ist dort eine andere Kategorie.
Der Titel eines Ihrer neuen Bücher lautet: "Mit mutigem Schritt zurück zum Glück". Woher sollen Trauernde den Mut nehmen, wenn sie sich gerade vollkommen gelähmt fühlen?
Sie brauchen in der Tat Mut. ,Das Leben wird vorwärts gelebt, aber nur rückwärts verstanden', das hat Søren Kierkegaard, der dänische Theologe, einmal gesagt. Das ist sehr weise. Du musst gehen, Schritt für Schritt, es hilft nichts. Das weiß auch im Grunde der trauernde Mensch. Und vielleicht tröstet es zu wissen, dass ich das Kind, den Mann, die Frau nicht völlig hinter mir lasse. Sondern ich gehe nach vorne und nehme diese Beziehung mit in mein weiteres Leben. Sie geht ein Stück mit auf meinem Weg. Das kann schon Kraft geben. Wenn wir uns an jemanden erinnern, den wir sehr geliebt haben, dann ist dieser Mensch ja noch präsent. Wenn meine Schwestern und ich über unsere Mutter sprechen, dann ist sie präsent am Tisch. Dann würde mich gar nicht wundern, wenn da eine vierte Tasse Kaffee steht. Diese liebende Erinnerung hält diesen Menschen bei uns.
Wie gehen trauernde Menschen mit Ängsten um, die ganz real sind? Sie haben gerade eine Beerdigung gezahlt und fragen sich jetzt bange, wie sie die hohe Gasrechnung bezahlen sollen. Was raten Sie?
Bei Ängsten helfen immer auch Fakten. Das heißt, sich ganz genau aufzuschreiben: Was ist mein Einkommen. Was sind meine Kosten? Damit diese Angst nicht so nebulös ist. Und wenn ich sehe, da klappt tatsächliche eine Lücke, kann ich mich fragen: Habe ich Freunde oder Freundinnen, Familienangehörige, die mir helfen? Oder gibt es staatliche Unterstützung?
Viele kostet das eine enorme Überwindung …
Die Betroffenen sollten nicht schambesetzt zu sein. Das finde ich wichtig. Niemand muss sich schämen, weil er etwas finanziell nicht bewältigen kann. Das betrifft sehr, sehr viele Menschen. Es gibt staatliche Hilfsleistungen und die kann man auch in Anspruch nehmen. Und ich kann Freundinnen, Freunde, Verwandte bitten, mir zu helfen. Das macht niemand gern. Aber wenn wir das Leben als Kreislauf sehen, in dem wir mal etwas geben und mal etwas nehmen, dann muss sich auch niemand schämen für eine Phase, in der er oder sie nehmen muss. Ich finde, viele Menschen schämen sich zu sehr.
Woher kommt das, dass sich Menschen so oft schämen? Betrifft das besonders Ältere?
Gerade bei Älteren ist es oft schambesetzt, wenn sie um Hilfe bitten. Weil sie meinen, dass jeder für sich selbst sorgen können muss. Aber im Unterschied zu den USA leben wir in einem sozialen Staat, in dem wir tatsächlich sagen: Die Starken treten für die Schwächeren ein. Und ich bin dankbar, dass wir in einem solchen Land leben, in dem es nicht heißt: Jeder ist sich selbst der Nächste. Sondern wer hat, der soll auch gern geben. Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb, steht schon in der Bibel.
Gibt es etwas, wovor Sie selbst Angst haben? Empfinden Sie zum Beispiel den Krieg in der Ukraine als Bedrohung?
Jeder Krieg endet auch wieder. Für mich muss das Ende so schnell wie möglich durch Waffenstillstand kommen. Ich erzähle auch meinen Enkeln von den Kriegserfahrungen meiner Eltern. Dann wird ihnen klar: Sie haben auch Krieg erlebt. Und sie haben Krieg überlebt. Ich will aber nichts kleinreden. Krieg ist grauenvoll, furchtbar. Ich nehme die Ängste sehr ernst. Und gerade bei sehr alten Menschen, die Krieg noch erlebt haben, kommen uralte Ängste hoch. Auch das müssen wir ernst nehmen und uns Zeit für sie nehmen. Sie brauchen Zeit, darüber zu reden, was sie als Kinder erlebt haben.
Was halten Sie von Online-Trauerportalen wie trosthelden.de?
Die Chance, die darin liegt, sollte genutzt werden. Wenn man wie bei TrostHelden Menschen mit ähnlicher Erfahrung in der Trauer zusammenbringt, kann das schon sehr guttun. Denn ich erlebe oft, dass Trauernde sagen, das, was sie erlebt haben, kann gar kein anderer verstehen, der nicht etwas Ähnliches erlebt hat. Aber insgesamt glaube ich: Der beste Trost ist, wenn jemand neben dir sitzt und deine Hand hält. Wo aber das Digitale uns unterstützen kann, sollten wir es nutzen.
In Zeiten von starken Kontaktbeschränkungen infolge der Corona-Pandemie war der Online-Austausch eine sehr gute Möglichkeit, überhaupt in einen intensiven Kontakt mit Gleichgesinnten zu treten …
Das ist gut und wir können dankbar sein, dass es möglich ist. Nur: Der menschliche Faktor ist nicht zu ersetzen. Aber das Digitale kann begleitend ergänzen.
Trauernde mit ähnlichem Schicksalsschlag und ähnlichen Lebensumständen finden bei trosthelden.de ihre persönliche Trauerfreundin oder ihren persönlichen Trauerfreund. Der Erstkontakt ist online. Viele Trauernde treffen sich später dann aber auch persönlich: zum Gedankenaustausch, zur gegenseitigen Unterstützung und um in schwierigen Phasen einander die Hand zu halten.