Die WHO misst dem Thema Trauer und den möglichen Folgen nun auch von offizieller Seite eine enorme Bedeutung zu. Ist das ein Meilenstein in der Bewertung von Trauerreaktionen, Hendrik Lind?
Was dadurch erstmals möglich wird: Ein Arzt kann psychische oder physische Veränderungen infolge von Trauer diagnostizieren und eindeutig kennzeichnen bzw. kodieren oder klassifizieren – für die Abrechnung mit den Krankenkassen. Dadurch wird das Gesundheitssystem, werden die gesetzlichen Krankenkassen zum ersten Mal konkrete Zahlen auf dem Tisch haben, welche Kosten durch Trauer wirklich entstehen. Das reicht von Behandlungen etwa von Depressionen bis hin zu den Kosten durch Krankschreibungen infolge von Trauerstörungen. Bisher wurde immer nur vermutet, welche Kosten dadurch verursacht werden. Hohe Kosten übrigens.
Werden nur die Kosten erfasst durch ICD-11?
Nein, sondern auch, welche Arten von Trauerfolgeerscheinungen auftreten. Dazu zählen Angststörungen, Depressionen, extreme Vereinsamung, Lonely-Heart-Syndrom und einiges mehr.
Lonely-Heart-Syndrom?
Kardiologen haben festgestellt, dass Stress, der zum Beispiel durch Trauer und Kummer hervorgerufen wird, dem Herzen schaden kann. Als "Gebrochenes-Herz-Syndrom" bezeichnen Mediziner eine plötzlich auftretende Herzstörung in der linken Herzkammer. Das bedeutet: Ein Herz kann nicht nur im übertragenen Sinne brechen.
Wann werden den Krankenkassen durch die neue Regelung erste konkrete Zahlen vorliegen?
Ich schätze ab Oktober 2022.
Was bedeutet das für die gesetzlichen Krankenkassen?
Die gesetzlichen Krankenkassen müssen sich natürlich an gesetzliche Vorgaben halten. Wenn konkrete Zahlen vorliegen, verfügen Krankenkassen auch auf rein gesetzlichen Grundlagen über einen größeren Spielraum. Sie haben ganz andere Handlungsmöglichkeiten: Wie begegnen wir diesem Problem? Womit können wir Trauernden helfen? Welche Maßnahmen, welche Versorgungsinnovationen sind vielversprechend? Das ist ohne konkrete Zahlen lediglich auf Basis von Vermutungen nicht möglich. Deshalb werden von den gesetzlichen Krankenkassen bisher auch keine Hilfsangebote zur Trauerbewältigung bezahlt.
Das heißt, wenn diese belastbaren Zahlen voraussichtlich im Herbst vorliegen, haben die Krankenkassen ganz neue Möglichkeiten, ihren Versicherten Angebote zur Trauerbewältigung zu unterbreiten?
So ist es.
Durch Trauerstörungen, die nicht bearbeitet werden, entstehen nicht nur Krankenkassen zum Teil hohe Kosten. Hinzu kommt der volkswirtschaftliche Schaden …
In der Tat. Wenn Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter längere Zeit infolge einer Krankschreibung am Arbeitsplatz fehlen, können hohe Kosten entstehen. Sind erst einmal die Kosten konkret beziffert, gehe ich davon aus, dass nicht nur die Krankenkassen, sondern auch andere Einrichtungen, Institute und Unternehmen auf das Thema aufmerksam werden. Auf diese Weise wird die längst notwendige Debatte über unsere Trauerkultur und den Umgang mit Trauernden endlich angefacht. Ich habe Einzelgespräche mit tausenden von Trauernden geführt: Eine solche Debatte auf breiter Ebene ist dringend notwendig.
Was folgt konkret aus der Neuregelung für Trauernde?
Im ersten Schritt können die einzelnen gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten Maßnahmen zur Trauerbewältigung anbieten. So könnte zum Beispiel eine professionelle Trauerbegleitung von der Krankenkasse übernommen werden. Bis jetzt ruht diese Trauerbegleitung häufig auf den Schultern sehr vieler Ehrenamtlicher.
Und es bietet sich die Möglichkeit, ganz neue Formen der Unterstützung von Trauernden anzubieten?
Davon gehe ich fest aus. Darunter könnten dann auch Versorgungsinnovationen sein wie etwa das Trostportal TrostHelden, mit dem sich Trauernde mit gleichem oder ähnlichem Schicksalsschlag über ein ausgeklügeltes Matching-Verfahren online begegnen und dann austauschen können. TrostHelden bringt Betroffene mit ähnlichen Lebensumständen und einem ähnlichen Umgang mit Trauer zusammen.
Die ICD-11 der WHO ist, vereinfacht gesagt, ein weltweit gültiges Kodierungssystem für Krankheiten und Gesundheitsprobleme. Sind Ärzte dazu verpflichtet, Trauerstörungen entsprechend zu kodieren?
Zunächst gibt es einen Übergangszeitraum. Später dann wird das meines Wissens bei Vertragsärzten von gesetzlichen Krankenkassen verpflichtend sein.
Was im ersten Moment positiv und nach mehr Unterstützung für Trauernde klingt, hat bei manchen Betroffenen sowie Menschen, die mit Trauernden arbeiten, regelrecht Empörung ausgelöst. Warum?
Die erste Reaktion war eine Empörung darüber, Trauer als Krankheit zu bezeichnen. Trauer, auch länger anhaltende Trauer, ist keine Krankheit. Sie ist eine ganz normale, wichtige Reaktion eines Menschen auf den Verlust eines geliebten Menschen. Doch viele Kritiker sehen mittlerweile, dass durch die Trauer Krankheiten entstehen können. Und dass die gesetzlichen Krankenkassen durch die Neuregelung ganz andere Möglichkeiten haben werden, Trauernden gezielt zu helfen. Denn es werden viele neue, innovative Angebote für Trauernde entstehen. Dazu zählt auch so ein besonderes Online-Portal wie TrostHelden. Angebote, die die Krankenkassen annehmen können. Das ist eine riesige Chance.
Ein Foto von Hendrik Lind steht zum Download im Pressebereich bereit.