Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen Zappel-Philipp und Hans Guck-in-die-Luft als abschreckende Beispiele für unartige Kinder in den Struwwelpeter-Geschichten von Heinrich Hoffman. Heute gehören Aufmerksamkeits- und Ablenkbarkeitsstörungen zu den bei Kindern und Jugendlichen am häufigsten diagnostizierten Krankheitsbildern. Laut Bundesamt für Gesundheit reichen weltweite Schätzungen bis zu 18 Prozent, in Deutschland sollen immerhin bis zu sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen davon betroffen sein. Für die fünfte und sechste Schulstufe wird sogar von bis zu 20 Prozent betroffener Kinder gesprochen, wobei die Diagnose bei Jungen drei- bis neunmal häufiger gestellt wird als bei Mädchen. Dabei handelt es sich meist nicht um eine harmlose, vorübergehende Störung, sondern um ein ernstzunehmendes Entwicklungsrisiko. Dies wird auch daran deutlich, dass Aufmerksamkeitsstörungen häufig von anderen Symptomen begleitet werden. Hyperaktivität und Impulsivität sind, wie die Geschichte vom Zappel-Philipp zeigt, wohl die bekanntesten. Bis zu zwei Drittel der betroffenen Kinder zeigen aber auch Störungen des Sozialverhaltens, Ängste, Depressionen, Tics oder Teilleistungsstörungen. Dementsprechend stark sind die Beeinträchtigungen sowohl für die Betroffenen selber als auch für ihre Umwelt und dementsprechend verunsichert sind dadurch viele Kinder, Eltern und Lehrer.
Dass es sich bei Aufmerksamkeitsdefiziten und ihren Begleiterscheinungen nicht, wie die Struwwelpeter-Geschichten suggerierten, um böswilliges Verhalten handelt, ist inzwischen längst bekannt. Dass dieses Verhalten aber tatsächlich meist nur zu einem geringen Grad willentlich gesteuert werden kann, ist weit weniger geläufig. Bewusst gelenkte, willkürliche Prozesse beeinflussen nur einen Teil dessen, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Unsere restliche Aufmerksamkeit wird unwillkürlich von Reizen angezogen, die entweder zu einem aktuellen Bedürfnis passen (wie z.B. der Duft einer Bratwurst zu einem Hungergefühl) oder die auf eine ungewöhnliche Veränderung in der Umwelt hindeuten, wie dies z.B. ein lauter Knall tut. Experten nehmen an, dass bei Aufmerksamkeitsauffälligkeiten oft gerade diese zweite Art der Aufmerksamkeitszuwendung besonders betroffen ist, da entweder zu vielen oder zu wenigen Reizen unwillkürliche Aufmerksamkeit zuteil wird. Da diese Zuwendung wesentlich schneller geschieht als die bewusst gesteuerte, nützen auch noch so gut gemeinte Ratschläge wie "versuch doch, dich besser zu konzentrieren" oder "pass doch besser auf" meist herzlich wenig, da die Aufmerksamkeit schon lange weg ist, bevor man versuchen kann, sie zu beherzigen.
Da sich gezeigt hat, dass viele Therapien erst wirksam werden, wenn auch die betroffenen Lehrkräfte mitbeteiligt werden, wollen die Universität Siegen und das Kompetenzteam Siegen-Wittgenstein nun in einem innovativen Lehr- und Forschungsprojekt unter der Leitung von Prof. Dr. Kurt Sokolowski die Diagnose- und Beratungskompetenz von Lehrpersonen im Bereich Aufmerksamkeit und Ablenkbarkeit fördern. Als Berater für das Projekt fungiert der ehemalige Leiter der psychologischen Beratungsstelle Siegen, Dipl.-Psych. Gerhard Schmidt. In den im Sommer anlaufenden Kursen unter der Leitung von Dr. Marianne Schneider werden sowohl angehende als auch bereits berufstätige Lehrkräfte anhand von selber beobachteten Fall-beispielen darin geschult, willkürliche und vor allem auch unwillkürliche Aufmerksamkeits-prozesse besser analysieren und verstehen zu können und darauf aufbauend angemessenere Wege zu finden, mit dem Zappel-Philipp und dem Hans Guck-in-die-Luft in ihrer Klasse umzugehen. Der erste Kurs richtet sich an Grundschullehrkräfte des Kreises; die Ausschreibung liegt inzwischen in den Schulen vor.