Die Arbeitsgruppe unter Leitung von Reinecke hat in Zusammenarbeit mit dem BARMER Institut für Gesundheitssystemforschung (bifg) die Patientendatensätze der Krankenkasse aus zehn Jahren retrospektiv ausgewertet: Das Ergebnis könnte eine Kehrtwende bei der Verordnung von Blutverdünnern in Deutschland bedeuten. „Seit ihrer Markteinführung vor rund zwölf Jahren haben sich die in den modernen NOAKs enthaltenen Wirkstoffe am Markt gegenüber den Vitamin-K-Antagonisten (VKA) der ersten Stunde durchgesetzt. Vereinfacht gesprochen hat unsere Langzeitstudie an den Daten von fast 600.000 Patientinnen und Patienten nun herausgefunden, dass der Vitamin-K-Antagonist Phenprocoumon (Marcumar®) den NOAKs in seiner Wirkung insbesondere mit Blick auf ein besseres Überleben überlegen sein könnte“, so Reinecke. Kurz gesagt, sei das in den 80er Jahren markteingeführte Marcumar® mit einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit der Betroffenen assoziiert als die moderneren NOAKs, führt er weiter aus. „Für Niedergelassene und Betroffene ist das eine Nachricht, die nicht ignoriert werden sollte, zumal es weitere Studien aus dem In- und Ausland gibt, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen.“ Reinecke räumt aber auch ein, dass es nun zunächst zur Absicherung der These randomisierte prospektive Studien mit einer breit aufgestellten Altersgruppe geben müsse, die die Wirksamkeit und das Überleben von Phenprocoumon im Vergleich zu den jeweils einzelnen Wirkstoffen der neueren NOAKs 1:1 untersuchen.
Der große Vorteil einer groß angelegte Real-World-Studie erklärt sich vor allem dadurch, dass sie die medizinischen Ergebnisse von hunderttausenden Betroffenen analysiert und sich nicht auf eine beschränkte, meist jüngere und recht gesunde Probandengruppe bezieht, wie Zulassungsstudien es häufig tun. Bei der hier untersuchten Gruppe handelt es sich um das gesamte Spektrum an Patientinnen und Patienten aus Deutschland, die bei neu diagnostiziertem thromboembolischem Risiko durch Schlaganfall, Thrombose oder Lungenembolie zuvor noch nie auf Blutverdünnung angewiesen waren. Die NOAKs wurden dagegen bei Zulassung am Markt Anfang der 2010er Jahre ausschließlich an jungen und gesunden Patientinnen und Patienten getestet. Darin könnte nun die Begründung liegen, warum für ein langfristiges Überleben bei den in dieser Studie untersuchten, meist älteren und doch erheblich kränkeren Patienten, doch Marcumar die bessere Wahl sein könnte.
In der ärztlichen Verordnungspraxis liegt der große Vorteil der NOAKs gegenüber dem kontrollintensiven Marcumar® vor allem in der einfachen Anwendung für die Patientinnen und Patienten. Die Gabe von NOAKs erfordert weniger ärztliche Überwachung als die Gabe von Phenprocoumon, bei der engmaschig am besten wöchentlich die Blutgerinnung labordiagnostisch erhoben werden muss. Für den Laien schwer einzuschätzende Einflussfaktoren, wie der Konsum von viel Vitamin-K durch beispielsweise grünes Gemüse, könnten nämlich unter Marcumar®-Einnahme die Blutgerinnung gefährlich beeinflussen.
Teure NOAK-Wirkstoffe führen zu hohen Kostensteigerungen
Neben dem fehlenden Therapievorteil macht Reinecke aber noch ein weiteres Argument geltend: Im Jahr 2022 machten die Verordnungen von NOAKs 99 Prozent des Gesamtumsatzes aller Antikoagulantien aus. Der Anteil bei den Verordnungen an Blutverdünnern wächst stetig, der Marktanteil des Wirkstoffs Phenprocoumon ist dagegen deutlich zurückgegangen. „Wir wollen den Betroffenen keine Sorge bereiten, denn NOAKs sind natürlich auch wirksam, wenn wir auch eine tendenziell bessere Überlebensdauer für Marcumar® ermitteln konnten. Definitiv muss man aber die Frage nach dem therapeutischen Zusatznutzen dieser enorm teuren Medikamente stellen“, so Reinecke.
Die prozentuale Zunahme bei den Verordnungen der verhältnismäßig teuren NOAKs hat zu einer hohen Kostensteigerung bei den Arzneimittelausgaben der Kostenträger geführt. Allein die beiden NOAK-Wirkstoffe Apixaban und Rivaroxaban belegten u.a. im Jahr 2022 Platz zwei und drei der Medikamente, für die die höchsten Ausgaben getätigt wurden, in der Summe über zwei Milliarden Euro für beide zusammen. Damit zählen diese Präparate eindeutig zu den größten Kostentreibern. „Marcumar kostet dagegen pro Tablette nicht einmal dreißig Cent“, gibt Reinecke zu bedenken. Bei der Verordnungspraxis sollte deswegen nach Meinung der Studienautoren noch einmal überdacht werden, welches Präparat verordnet wird.