In Die Seele – woher und wohin beschreibt Hazrat Inayat Khan den Weg der Seele, die sich als ein Lichtstrahl aus der Einheit Gottes löst, sich ein Gewand aus Gedanken und Gefühlen zulegt und dann einen physischen Körper, um den Zweck der Schöpfung zu erfüllen, alles mit göttlichem Bewusstsein zu durchdringen. Dann kehrt sie reich an Erfahrungen und ihrer selbst bewusst zu ihrem Ursprung zurück.
Was existierte vor der Manifestation? Zat, die Essenz, das wahrhaft Existierende, das Einzige Sein. In welcher Form? In keiner Form. Als was? Als nichts. Die einzige Definition, die man in Worten geben kann, ist: das Absolute. Die Sufi-Bezeichnung für diese Existenz ist ahadiya (Einheit).
Aus dem Absoluten erhob sich Bewusstsein, das Bewusstsein der Existenz. Es gab nichts, dessen sich das Absolute bewusst werden konnte – außer seiner Existenz. Dieses Stadium wird wahda (das Bewusstsein reiner Existenz). Aus diesem Bewusstsein der Existenz entwickelte sich ein Gefühl, das Gefühl, dass Ich existiere. Es war eine Weiterentwicklung des Bewusstseins der Existenz. Dieser Schritt formte das Ich, den Logos, von den Sufis wahdaniya (das Bewusstsein der Ichheit) genannt. Mit dem Gefühl der Ichheit zog sich sozusagen die dem Absoluten innewohnende Kraft zusammen, das heißt, sie konzentrierte sich auf einen Punkt. So schuf die alles durchdringende Strahlkraft ihr Zentrum, und dieses Zentrum ist der göttliche Geist oder das Licht, in der Sufi-Terminologie arwah (Seelen; das zentrierte Licht, aus dem die Seelen als Lichtstrahlen ausgesandt werden) genannt.
Dieses zentrierte Licht teilte dann die Existenz in zwei Formen: Licht und Dunkelheit. Tatsächlich gibt es so etwas wie Dunkelheit nicht; Dunkelheit hat es nie gegeben. Licht und Dunkelheit bedeuten lediglich mehr Licht im Vergleich zu weniger Licht. Diese beiden Erscheinungen, Licht und Dunkelheit, bildeten ein akasha oder, in Sufi-Begriffen, asman, das heißt einen Raum, eine Form. Die Phänomene von Licht und Schatten wirkten durch diese Form und förderten damit das Entstehen vieler weiterer Räume, asmans oder akashas. Jeder Schritt in der Manifestation brachte eine Vielfalt von Formen hervor. Diese Ebene der konkreten Formen der Natur wird von den Sufis ajsam (der Körper) genannt. Allmählich entstand aus dem Mineralreich das Pflanzenreich, aus dem Pflanzenreich das Tierreich und aus dem Tierreich die menschlichen Wesen, insan (der Mensch). So wurde der göttliche Geist mit Körpern, ajsam, versehen, die er von der Zeit an brauchte, als er sich in einen Punkt zusammenzog und von diesem Zentrum aus seine Strahlen in Form der verschiedenen Seelen aussandte.
Mit der Erschaffung des Menschen hat die Manifestation ihre Aufgabe, alles Seiende zu erschaffen, schon zur Hälfte erfüllt. Im Menschen wurde die Weisheit geboren, alles, was auf Erden ist, zum größtmöglichen Vorteil zu lenken und zu nutzen. In der Menschheit hat die Manifestation ihr Ziel voll erreicht, ganz besonders in Menschen, die auf ihrer Rückreise ein immer größeres Bewusstsein vom Sinn ihres Lebens erlangt haben, indem sie ihren geistigen Horizont erweiterten und ein erfülltes Leben führten. Es sind Menschen, die das Stadium der Verwirklichung erreicht haben, das man „Göttlichkeit“ nennt und in dem sich der Zweck der ganzen Manifestation erfüllt.
Über den Autor
Hazrat Inayat Khan ist der Begründer der internationalen Sufi-Bewegung und des internationalen Sufi-Ordens. 1882 in Baroda an der West-Küste Indiens geboren, wurde der Sufi-Mystiker in seiner Heimat als Virtuose der klassischen indischen Musik verehrt. Schon in jungen Jahren wurde dem Sänger und Vina-Spieler der Titel „Tansen“ – bedeutendster Musiker Indiens – verliehen. Sein geistiger Lehrer war Kwaja Abu Hashim Madani. Dieser gab ihm den Auftrag: „Ziehe hinaus in die Welt und bringe den Osten und den Westen mit Deiner Musik in Einklang“.
Khan lebte und lehrte ab 1910 in den Vereinigten Staaten und Europa. Seine Kenntnis der durch Musik bewegten Seele war es, die ihm Meisterschaft im „Stimmen menschlicher Seelen“ verlieh. Er brachte uns Europäern damit das tiefe, alte indische Wissen des Vedanta nahe. Die Lehre, die er in den Westen brachte, ist die „Botschaft von Liebe, Harmonie und Schönheit“.
Seine Kenntnis der durch Musik bewegten Seele war es, die ihm Meisterschaft im Stimmen menschlicher Seelen verlieh und diese zu einer Bruderschaft verband. 1926 ging er zurück nach Indien, und 1927 kehrte er in seine geistige Heimat zurück.
Die Seele – woher und wohin | Verlag Heilbronn 2019 | 279 Seiten | gebunden | ISBN 978-3-936246-33-9 | € 28,00