Es war kein Bilderbuchabend. Nass war es und kalt und dunkel. Keine Straßenlaterne brannte, kein Lichtschein drang aus den Häusern. Aus Angst vor den feindlichen Fliegern herrschte Verdunkelungszwang. Ein kleines Mädchen war mit seiner Mutter unterwegs. Sie kamen von Großmutter und Tante, die beide großzügig Lebensmittel und sogar Spekulatius mit auf den Weg gegeben hatten. Sie wollten zu der anderen Großmutter, die ihnen seit einigen Monaten Obdach gewährte, weil die eigene Wohnung zerbombt war.
Sie erzählten von früher, wie es am Nikolausabend war, und das kleine Mädchen bekannte kichernd: „Weißt du noch, Mutti, als der Nikolaus zuletzt bei mir war und mir auftrug: ,Bete für deinen Bruder!‘? Da habt Ihr Erwachsenen alle gelacht. Auch ich hatte ihn erkannt, aber ich wollte das Spiel mitmachen.“
Die Mutter lächelte traurig: „Wo mag er heute sein, dein Bruder? Lange haben wir nichts von ihm gehört. Vati und ich machen uns große Sorgen. Er ist doch erst 17 Jahre und muss in den Krieg.“
Schweigend erreichten die beiden nach einem halbstündigen Marsch eine Straßenbahn. Hier war es wenigstens etwas wärmer, denn die warme Winterkleidung, die es normalerweise für diese Jahreszeit gab, war verbrannt.
Kaum saßen die beiden, da ertönte die Sirene: Fliegeralarm. Die Straßenbahn hielt am Bahnhof, hastig stiegen die Leute aus, liefen in alle Richtungen und versuchten, den nächsten Luftschutzkeller zu erreichen.
„Das war erst Voralarm“, sagte Mutti, „wir versuchen, über die Eisenbahnbrücke zu laufen und vielleicht doch noch das Haus von Oma zu erreichen.“ Gesagt, getan. Sie rannten so schnell sie konnten. Plumps – das kleine Mädchen fiel hin, nicht so schlimm, es fiel weich, nämlich auf einen Kissenbezug, in dem sich der Spekulatius befand. Später schmeckten aber auch die Krümel sehr gut nach Nikolaus.
Zunächst war kein Laut auf der Straße zu hören, die diesmal kein Ende nahm. Sie waren sie oft in den letzten Monaten am Tag gegangen, die Mutter und das kleine Mädchen, ein Leiterwägelchen ziehend, das das eine oder andere aus den Trümmern geborgene Stück enthielt.
Jetzt Großalarm!!! Große Angst hatte das kleine Mädchen – wie immer, wenn die Sirenen heulten. „Wir schaffen es,“ meinte die Mutter, „noch fünf Minuten. Horch, hinter uns laufen auch noch Leute, hörst du die Schritte?“
Es weinte nicht, das kleine Mädchen, es hatte in den Kriegsjahren gelernt, die Zähne zusammenzubeißen und bei Gefahr zu beten. Die letzten 100 Meter! Akute Luftgefahr! Dieses Signal war noch nicht lange eingeführt und bedeutete unmittelbare Gefahr. Sie erreichten das Haus der Großmutter, die im Keller saß und einen Augenblick von ihrem Rosenkranz aufsah – voll Freude, als sie die beiden sah.
Doch was war das? Das Gartentörchen knarrte. Wer kommt? „Das ist Vati, er stellt sein Fahrrad ein; gut, dass er nun auch zu Hause ist.“ Alle atmeten auf, denn man wusste nicht gern einen Familienangehörigen am Abend unterwegs.
Noch einmal knarrte das Gartentörchen! Genagelte Schuhe waren zu hören. Wir hielten die Luft an vor Anspannung und dann rief jemand aus der Küche: „Wo seid ihr denn alle, ist niemand zu Hause?“
Der Bruder war wieder da! Nicht für lange, aber für diesen Nikolausabend. Es war der letzte, den wir mit ihm erlebten.
Die Geschichte hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. im Band 4 der Reihe „Weihnachtsgeschichten in schwerer Zeit“ veröffentlicht. Sein Titel: „Licht in der Dunkelheit“ (2022). Das Buch ist über www.volksbund.de/mediathek oder per Mail über bestellungen@volksbund.de kostenfrei erhältlich.