«Da Questa Parte Del Mare» - die aktuelle CD und das Konzertprogramm, mit dem Testa nach Wien kommt – ist einem Thema gewidmet, als wäre es in seiner Gesamtheit ein Roman und die Lieder Kapitel, die eine Geschichte erzählen: Moderne Migration. Eine poetische Reflexion, offen und ohne Demagogie, über die enormen Völkerbewegungen unserer Zeit. Über die harten Gründe des Aufbrechens, über die leidvolle Entscheidung, Wüsten und Meere zu durchqueren, über die Bedeutung von Worten wie "Land" oder "Heimat" und über das Gefühl der Entwurzelung und Verwirrung, das eine Ortsveränderung immer mit sich bringt. Auf jedwedem Brei-tengrad.
Sie sind zu zweit von irgendeinem Hafen in Nordafrika aufgebrochen, als blinde Passagiere versteckt im Laderaum eines Frachtschiffes.
Nach zwei Drittel der Reise hat man sie entdeckt und ins Meer geworfen.
Ein Fischerboot hat sie aus der Adria geholt. Keinerlei Hilfe an Bord.
Sie haben sie wie Ballast in einem Schlauchboot zweihundert Meter vor einem Strand in Apulien ausgesetzt.
Als sie an Land gebracht wurden, war es für einen der beiden zu spät.
Der andere hat dann erzählt.
Es war Anfang der 90er Jahre.
Ich habe nicht für sie geschrieben. Das könnte ich nicht.
Ich habe für mich geschrieben und für diejenigen, die wie ich auf dieser Seite des Meeres leben.
Gianmaria Testa
«Da Questa Parte Del Mare»
Das Album ist wie eine lange Ballade mit verschiedenen Tempi und verschiedenen Rhythmen, nicht nur musikalischer Art, konzipiert.
Da ist zu Beginn der Strom, der Strom der Männer und Frauen "mit dem versunkenen Blick", ihre Schritte sind schwermütig, aber unaufhaltsam («Seminatori di grano»).
Es folgt der Abschied, das Meer, dem man sich stellen muss – wie es niemals jemand beschrieben hat –, das heimliche An-Bord-Gehen, die Schreie, das Gedränge («Rrock»). Und nach dem Abschied taucht das fatale Bild der endgültigen Entwurzelung auf, des Identitätsverlustes, eines Abschieds vom Land, vom Zuhause, von den eigenen Dinge und sogar dem eigenen Namen («Forse qualcuno domani»).
Die Reise ist lang, gefährlich. Es ist eine Reise zu einem unbekannten, nur vorgestellten Ziel, und auf dem Grund dieses dunklen Meeres gibt es nicht die wohlklingenden Sire-nen aus den Märchen; die Stimmen, die aus dem Wasser kommen, sind die Klagen der Ertrunkenen, ein Trauerlied, das fast ein verkehrtes Schlaflied ist («Una barca scura»). Schließlich kommt man hier, auf dieser Seite des Meeres an, das erträumte und idealisierte Ziel wird zur konkreten Wirklichkeit, mit der man Tag für Tag leben muss, wird zu einem Klumpen Schwierigkeiten. Und es gibt die Begegnung und Auseinandersetzung mit den anderen, die eben wir sind. Der nachts an Bord gekommene blinde Passagier wird bei Sturm zu dem, der "der roten Ampel die Hand gibt", wird zum Synonym für alle Plagen und Scherereien der Welt («Tela di ragno»).
Die Zeit vergeht, aber die Reise, das Meer "das sich auf dich stürzt wie die Trift", kann man nicht vergessen, es ist etwas, das sich eingräbt, im Guten wie im Schlechten. Und so passiert es, dass man "an bestimmten Orten" schließlich "immer auf das Meer" schaut, und während man es anschaut, beginnt man sich zu erinnern. Es ist seltsam, aber normal, dass nicht nur die Anstrengung, die Schreie oder die Gewalt ins Gedächtnis zurückkehren, sondern vor allem eine kleine Flamme der Menschlichkeit, "zwei schwarze Augen voll Sand und Salz", die eine "Zuflucht beim kalten Wahn des Durchquerens" waren. Doch der "Zauber" endet mit der Ankunft, die auch der Anfang einer Trennung ist, und die dunklen Augen verlieren sich auf anderen Wegen («Il passo e l'incanto»). 3/4 ist der Traum, wie alles hätte werden können, wenn es keine Trennung gegeben hätte, ein kleines, intensives Liebeslied, das von der Vergangenheit erzählt und Zärtlichkeit und Sehnsucht vermischt.
Aber es ist auch Platz für eine lustige Geschichte ganz normaler Menschlichkeit. Eine Geschichte, die in ihrer unleugbaren Tragik – eine unerwartete Geburt auf dem Markt an der Porta Palazzo in Turin – doch das Paradoxon eines Lachens und den Gedanken verbirgt, dass irgendeine Integration sicherlich möglich ist. Wenn nicht heute, dann morgen. Denn das Leben gewinnt immer, und das Leben ist stärker als alles andere («Al mercato di Porta Palazzo»).
Es gab eine Zeit, in der die Emigranten wir waren. Ritals erzählt diese Geschichte und ist im Geiste dem vor einigen Jahren verstorbenen französischen Schriftsteller Jean-Claude Izzo gewidmet. Jean-Claude war ein Freund von Gianmaria und der "französische" Sohn eines Emigranten aus Salerno, ein "rital", wie die Franzosen in den 50er Jahren mit einer gewissen Verachtung die auf der Suche nach Arbeit nach Frankreich gekommenen Italiener nannten.
«Miniera» hingegen ist das, was man heute als Cover bezeich-net. Es ist nicht von Gianmaria, auch wenn er sich das Lied auf den Leib geschneidert hat. Geschrieben haben es Bixio und Cherubini in den 20er Jahren (1927, um genau zu sein), und es gibt mit seiner sehnsüchtigen und melancholischen Melodie trotz einer gewissen zeittypischen volkstümlichen Demagogie gut den Geist und das Gefühl eines "emigrierten Herzens", fern von Zuhause und den geliebten Menschen wider. Am Ende steht, fast wie eine nachträgliche Inschrift, die Erklärung des Gesichtspunktes: Dies ist eine Geschichte, die "von hier aus" erzählt wird, "von dieser Seite des Meeres" aus, von "einer kleinen Stadt aus, durch die keine Straßenbahnen fahren" («La nostra città»).
Die angesprochene Wende ist aber auch und besonders musikalischer Natur, mit einer entschiedenen Rückkehr zur Liedform im engeren Sinn und einem Klang, der – obwohl er die italienische Melodie nicht vergisst –eindeutig "metropolitanischer" ist.
Gianmaria findet mit anderen Klängen und anderen Herangehensweisen zu dieser komplexen Schlichtheit der Struktur zurück, die die Grundlage für eines seiner erfolgreichsten Alben, «Il valzer di un giorno», bildete.
Gianmaria Testa
DA QUESTA PARTE DEL MARE
harmonia mundi